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Demonstration gegen Fremdenhass am 1. Mai im sachsen-anhaltischen Tröglitz. Wenige Tage zuvor war ein Brandanschlag auf die noch unbewohnte Flüchtlingsunterkunft verübt worden.

© Sebastian Willnow/dpa

Flüchtlinge in Deutschland: Seit Januar 93 Brandanschläge gegen Asylheime

Die Gewalt wächst: In diesem Jahr gab es bereits 222 gewalttätige Angriffe gegen Flüchtlingsunterkünfte. Zugleich nimmt die Hilflosigkeit der Behörden zu.

Von Matthias Meisner

Es ist eine lange Liste. "Zeit online" und "Die Zeit" haben addiert: Seit Januar wurden in Deutschland 222 gewalttätige Angriffe gegen Flüchtlingsunterkünfte verübt. Die traurige Bilanz: Die Gewalttaten gegen Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland sind von den Behörden nur zu einem verschwindend geringen Teil aufgeklärt worden.

Vor allem Brandanschläge sind inzwischen in allen Bundesländern schreckliche Realität. Sachsen und Nordrhein-Westfalen führen die Liste mit 18 beziehungsweise 14 von insgesamt 93 Fällen an. In Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg und Sachsen-Anhalt gab es in diesem Jahr bisher jeweils sieben Brandstiftungen in Asylunterkünften, in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern jeweils fünf.

Die Polizei konnte dabei nur in weniger als einem von vier Fällen einen Tatverdächtigen ermitteln, lediglich in vier Fällen haben Gerichte Täter verurteilt, in weiteren acht Fällen wurde Anklage erhoben. Das sind kaum mehr als fünf Prozent aller Angriffe. Zwölf Prozent der Verfahren wurden sogar bereits ganz eingestellt. Und dass, obwohl schon 104 Menschen bei Übergriffen verletzt wurden.

"Keine Auskunft", heißt es von den Behörden

Viele Fälle, die bundesweit Schlagzeilen machten, werden nun wieder in Erinnerung gerufen. Tröglitz in Sachsen-Anhalt etwa, wo Anfang April ein Brandanschlag auf eine noch unbewohnte Flüchtlingsunterkunft verübt wurde. Ob die Tat politisch motiviert war, ist in diesem Fall unbekannt. Einen Tatverdächtigen gibt es, aber ist er auch in Haft? "Keine Auskunft", heißt es von den Behörden.

Die geringe Aufklärungsquote bei den Angriffen gegen Flüchtlingsunterkünften ist ein generelles Problem. In der Statistik von "Zeit online" und "Die Zeit" wird sie an vielen Beispielen belegt. Im sächsischen Freiberg hatten Unbekannte im Februar im Flur einer Unterkunft einen Sprengsatz gezündet. Die Tat war nach Einschätzung der Behörden politisch motiviert, DNA-Spuren an Zigarettenkippen wurden ausgewertet - einen Tatverdächtigen aber gibt es nicht. Auch der Brandanschlag im Juni auf eine noch unbewohnte Unterkunft in Meißen war politisch motiviert. Zeugen sahen Menschen mit einem Benzinkanister aus dem Haus flüchten.

Fünf Monate nach der Tat konnte dieser Fall erst in dieser Woche aufgeklärt werden. Zwei Männer im Alter von 37 und 41 Jahren seien festgenommen worden, meldete der MDR Sachsen. Sie sitzen in Untersuchungshaft. Ihnen wird gemeinschaftliche schwere Brandstiftung und Sachbeschädigung vorgeworfen. Die beiden Männer haben nach Angaben der Staatsanwaltschaft die Taten gestanden. Als Motiv wurde Fremdenfeindlichkeit genannt. Sie wollten das Wohnhaus unbenutzbar machen und den Einzug Asylsuchender verhindern, hieß es.

Zu den Brandanschlägen hinzu kommen bundesweit 28 tätliche Angriffe mit Messern, Baseballschlägern und anderen Waffen, außerdem 93 gefährliche Sachbeschädigungen – von Steinwürfen bis hin zu Stahlkugeln, mit denen auf Fenster geschossen wurde. Die Täter nahmen mindestens in Kauf, dass Menschen verletzt oder sogar getötet werden. Acht Mal wurden Gebäude außerdem mit dem Ziel unter Wasser gesetzt, sie unbewohnbar zu machen.

Wird die Gesamtzahl aller gewalttätigen Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte betrachtet, bildet Sachsen einen klaren Schwerpunkt – sowohl absolut wie auch umgelegt auf die Zahl der Einwohner. Insgesamt 64 Gewalttaten registrierten die Behörden dort seit Jahresbeginn. In Berlin sind es 20, in Brandenburg 13. Immerhin: Nach dem Brandanschlag im August auf eine Containersiedlung in Marzahn konnte die Polizei mehrere Tatverdächtige festnehmen.

Eingestellt dagegen ist das Verfahren nach dem Angriff im März auf eine Unterkunft im brandenburgischen Bestensee. Unbekannte Täter hatten aus einem fahrenden Autor illegale Feuerwerkskörper in Richtung des Heimes geworfen. Die Polizei ermittelte zwar den Halter des Fahrzeugs, kann aber nicht nachweisen, wer während der Tat im Wagen saß. Nach dem Brandanschlag im August auf eine für Flüchtlinge vorgesehene Turnhalle in Nauen ermittelt die Staatsanwaltschaft Tatverdächtige, aber ihnen kann nichts nachgewiesen werden.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte im September versprochen, "mit der ganzen Härte des Rechtsstaats" werde gegen Menschen vorgegangen, die Flüchtlinge angreifen. Halten kann der Staat das Versprechen offenbar nicht.

Sachsens Justizminister Gemkow: Neue Aggressivität

Sachsens Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) sagte der "Zeit", nach dem Angriff durch Unbekannte auf seine Privatwohnung befürchte er eine weitere Gewalt-Eskalation in seinem Bundesland. "Leider muss ich davon ausgehen, dass das Klima noch rauer werden wird", erklärte Gemkow. "Es ist erschreckend, mit welcher Geschwindigkeit sich diese Hassspirale dreht." Auf Gemkows Leipziger Privatwohnung war in der Nacht zum 24. November ein Anschlag verübt worden. Unbekannte hatten Pflastersteine und Buttersäure in die Wohnung geworfen. "Sie zielten auf alle Räume unserer Zweieinhalbzimmerwohnung", sagt Gemkow. "Ihnen muss klar gewesen sein, dass ein Stein im Kinderbett landen könnte, das neben dem Fenster stand."

Vor dem Hintergrund von "neuer Aggressivität" und zahlreichen politisch motivierten Anschlägen will Gemkow bei den aktuellen Etat-Verhandlungen mehr Geld für Sachsens Justiz: "Ich setze mich dafür ein, dass es künftig mehr Stellen gibt", erklärte der Politiker. Es sei offensichtlich, dass "viele Justizmitarbeiter inzwischen an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen". Zudem kündigt Gemkow einen Vorstoß gegen Internet-Kriminalität an: "Im kommenden Jahr werde ich eine Cyber-Crime-Einheit in der sächsischen Staatsanwaltschaft schaffen, die sich auch Hetzkommentaren im Netz widmen wird." Zudem appellierte er an die Bürger, "jede als Straftat empfundene Hetze anzuzeigen".

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