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Alle sieben Mauerkreuze sind wieder zurück am Spreeufer neben dem Reichstag. Das Kreuz in der Mitte war auch vorher schon frei geblieben.

© Merle Collet

Flüchtlinge in Europa: Lasst alle Hoffnung fahren

Das Entwenden weißer Gedenkkreuze für die Mauertoten ist keine Grabschändung, sondern künstlerische Provokation. Sie mag pietätlos erscheinen, doch zynisch ist sie nicht. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Peter von Becker

Nicht nur in Berlin, auch in Europa sind die Mauern gefallen. Doch um Europa herum, zumindest an den Rändern der EU, sind neue Mauern und Stacheldrahtzäune entstanden. Diesmal als Abwehr nach außen. Gegen den Ansturm von Flüchtlingen aus den Krisen- und Kriegsgebieten der Welt, vor allem aus Afrika und Asien.

Natürlich sind die Berliner Mauer und ein Eiserner Vorhang mit Todesstreifen, die von Diktaturen zur Geiselnahme der eigenen Völker errichtet wurden, nicht gut vergleichbar mit den Grenzsperren der heutigen Europäischen Union. Doch ist dies kein Trost: nicht für die in oft unvorstellbarer Not Geflohenen und dann im Mittelmeer tausendfach Ertrunkenen oder an der europäischen Flüchtlings- und Asylpolitik Verzweifelten. Wer dennoch in die EU gelangt und dann in Containern landet, wer wie ein Bettler unter quälend dauernden, erniedrigenden Aufnahmeprozeduren leidet, der sieht das vermeintliche Menschenrecht auf Asyl überschrieben wie einst das Inferno bei Dante: „Lasst alle Hoffnung fahren!“

Das klingt pointiert und wirkt auch polemisch angesichts der Bemühungen von unzähligen Helfern, Betreuern, Beratern und Spendern in den praktisch und finanziell strapazierten Kommunen (oder in ärmeren Ländern wie Bulgarien und Griechenland). Aber der humanitäre Skandal ist da. Und die Zahl der Flüchtlinge, nicht nur aus den syrisch-irakischen Bürgerkriegshöllen, wächst. Die Kriege und Katastrophen werden nicht weniger, der Sturm auf Europa hat erst begonnen.

Kunst ist keine Geschmacksfrage

Parallel zum schönen Berliner Mauerfalljubiläum hatte nun eine Künstlergruppe etliche weißer Gedenkkreuze für die Mauertoten entwendet (nicht „gestohlen“, man wollte sie nie behalten), um sie als Mahnmale symbolisch bei einer Protestaktion an den stacheldrahtbewehrten Ostgrenzen der EU zu verwenden. Das hat einige Empörung ausgelöst, manche haben diesen Eingriff als zynisch oder gar menschenverachtend empfunden. Doch es war keine Grabschändung. Vielmehr eine Provokation. Künstler verweisen dabei gerne auf George Grosz’ Bildnis des gekreuzigten Heiland mit Gasmaske und Soldatenstiefeln. Damals ein Protest gegen das Zusammenspiel von Kirche und Militär im Ersten Weltkrieg.

Der dem Holocaust entronnene Dramatiker George Tabori spielt in einem seiner Stücke gleichfalls mit dem christlichen Symbol. Am Stadttheater Jerusalem wird da die Passionsgeschichte inszeniert, und als Jesus am Kreuz hängt und ihm der römische Legionär mit der Lanze in die Seite sticht, wie es die Evangelien berichten, wird Jesus gefragt, ob es wehtue. Und der Christusdarsteller am Kreuz antwortet: „Nur, wenn ich lache.“ Hierauf wendet eine Figur im Stück ein, ob diese Bemerkung nicht „geschmacklos“ sei. Worauf Taboris Alter Ego erwidert: „Das ist die Wahrheit immer.“

Kunst ist keine Geschmacksfrage, und die Berliner Kreuzgeschichte mag als Instrumentalisierung der Toten pietätlos erscheinen. Doch zynisch ist sie nicht. Zynisch wirkt, dass die EU auch auf deutsches Betreiben den Einsatz zur Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer soeben reduziert. Unfähig wirkt, dass die Bundesregierung eine Neuordnung der europäischen Flüchtlingspolitik – mit ihren ungleichen Aufnahmezahlen (Deutschland 2014 über 150 000 Asylsuchende, Großbritannien knapp 30 000) – nicht endlich zur Chefsache macht. Und: Warum dürfen Asylbewerber in Deutschland, statt so elend lange auf Almosen angewiesen zu sein, nicht einer gesetzlich geregelten Arbeit nachgehen? Sofort, unverzüglich.

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