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Kanzlerin Angela Merkel gerät durch die Einführung einer Obergrenze für Flüchtlinge in Österreich noch mehr unter Druck.

© Reuters/Michael Rehle

Flüchtlingskrise: Die Bürger werden der Kanzlerin dankbar sein

Sie weiß, dass sie sich verkalkuliert hat: Nach den Wahlen im März wird Angela Merkel ihren Kurswechsel öffentlich machen. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Erneut wird für Angela Merkel zu einer Schicksalsfrage, was zuerst kommt: europäische Entscheidungen oder eine deutsche Landtagswahl. Das gilt im zeitlichen wie im übertragenen Sinn. 2010 spitzte sich die griechische Schuldenkrise vor der NRW-Wahl am 9. Mai zu. Damals war die schwarz-gelbe Koalition wegen ihrer Steuersenkungsversprechen bei angespannter Haushaltslage und schlechter Prognose für die Steuereinnahmen unter Druck. Und nun drohte ein griechischer Hilfsantrag an die EU, der Deutschland mit mehr als 20 Milliarden Euro belasten würde.

Merkel hoffte, diese Entwicklung bis nach der Wahl verzögern zu können. Ihr Nein zur Griechenhilfe – gestützt auf das Argument, Athen könne sich noch einige Zeit am freien Markt finanzieren – war seinerzeit populär. Und von NRW hing die Mehrheit ihrer Koalition im Bundesrat ab. Doch Merkel hatte sich verkalkuliert. Athen bekam keine Kredite mehr, die Zinsen stiegen dafür zu rasch, und stellte Ende April den Hilfsantrag. Sie verlor die NRW-Wahl.

Warum zieht sie nicht vor der Wahl die Notbremse?

2016 überlagert die Flüchtlingskrise die drei Landtagswahlen am 13. März – und damit erneut die Frage, ob Merkel die europäische Konstellation korrekt analysiert und öffentlich darstellt. Seit Monaten bittet sie die Bürger um Geduld. Die EU werde, erstens, die nach Deutschland strömenden Migranten fair verteilen und, zweitens, die Außengrenzen sichern, damit nur ankomme, wer wirklich Schutz benötige. Es brauche Zeit, diese Schutzmechanismen zu vereinbaren und aufzubauen.

Der Ausgang der Landtagswahlen hängt zum Gutteil davon ab, ob die Bürger weiter darauf vertrauen. Zwei EU-Gipfel werden zu Prüfsteinen: der eine drei Wochen vor, der andere fünf Tage nach der Wahl. Im Grunde weiß Merkel bereits, dass Europa Deutschlands Last nicht nachhaltig lindern wird. Öffentlich wird sie aber an der Hoffnung festhalten und den ersten Gipfel, auch wenn er nichts Greifbares liefert, als Fortschritt beschreiben, der Resultate beim zweiten erwarten lasse.

Warum zieht sie nicht vor der Wahl die Notbremse? In ihrer Umgebung heißt es: Wer öffentlich ausbreite, was die Alternativen zur europäischen Lösung seien, verringere den Druck auf die Partner, ihren Teil beizutragen.

Das klingt nach Ausflucht. Sie weiß, dass sie sich verkalkuliert hat, empfindet einen erklärten Kurswechsel vor der Wahl aber offenbar nicht als Ausdruck von Handlungsstärke, sondern als Eingeständnis ihres Irrtums. Und, so paradox es klingen mag: Ein Scheitern der EU-Gipfel samt AfD-Erfolg bei den Wahlen würde ihr die Wende politisch erleichtern.

Die Stimmung im Land hat sich geändert. Der gutwillige Ansatz, das sehen die Bürger inzwischen, funktioniert nicht, weder an den Außengrenzen noch im Inland. Deshalb rückt eine „europäische Lösung“ der Flüchtlingskrise tatsächlich immer näher, nur anders, als die Kanzlerin versprochen hat: nicht solidarische Verteilung, sondern „Grenzen zu“. Ein Land nach dem anderen führt die Kontrollen wieder ein oder verkündet Obergrenzen, selbst Schweden, Dänemark und Österreich.

Die Kanzlerin bricht ihr Versprechen „Wir schaffen das“

In der Theorie gab es vier Optionen, um den Zustrom zu drosseln. Auf die ersten zwei ist kein Verlass. Die Türkei, Option eins, hat die Wanderungsströme trotz der Hilfsmilliarden nur geringfügig reduziert. Die EU, Option zwei, kann ihre Außengrenze selbst auch nicht wirksam schützen, wenn der Erfolg von schwach organisierten Staaten wie Griechenland und Bulgarien abhängt. Die dritte Rückzugslinie wäre der engere Schengenraum, diesseits der Balkanroute. Dort verstärken die EU-Partner die Grenzsicherung.

Hilft auch das nicht, wird auch Deutschland, vierte Option, die nationale Grenze schließen und die Einreise kontrollieren müssen. Im Inneren wirken die skandalösen Übergriffe von Köln, die Nachrichten von Betrug in Asylverfahren und maghrebinischen Serientätern sowie der wachsende Zulauf zur AfD wie ein Schock. Das ist nicht das Land, das die Freunde offener Grenzen verheißen haben.

In der zweiten Märzhälfte, nach schockierenden Wahlergebnissen und hilflosen EU-Gipfeln, wird Merkel den Kurswechsel öffentlich machen – wohl nicht einmal zu ihrem Schaden. Sie hat mal wieder geduldig gewartet, hat die Wähler nicht aktiv geführt, sondern vollzieht nach, wohin sich die Mehrheitsmeinung unter dem Druck der Ereignisse gedreht hat.

Nur wenige mochten sich das vor zwei Monaten vorstellen: Die Kanzlerin bricht ihr Versprechen „Wir schaffen das“, leitet die Notwende ein. Und die Bürger empören sich nicht, sondern sind ihr dafür richtig dankbar.

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