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Weesenstein

© Lutz Hennig

Flutopfer: Die Verlorenen von Weesenstein

Die einen konnten sich nur noch auf eine Mauer retten. Anderen flüchteten, als ihr Haus zur Hälfte weggerissen war. Viele Flutopfer haben bis heute Probleme – auch mit dem Neid der anderen.

Rudolf Fritzsche ist, was seine Gefühle angeht, ein zurückhaltender Mann. Wenn die mal zu den Augen herauswollen, hält er sie mit den Fingern auf oder, wenn es sein muss, auch mit den Handballen.

Das Wohnzimmer, in dem Rudolf Fritzsche mit seiner Frau Kerstin auf dem Sofa sitzt, ist rein und hell. Die Schrankwand, die Wände, das T-Shirt: alles weiß, als müssten die Fritzsches ein Zeichen setzen gegen den Schlamm, den das Wasser vor fünf Jahren in ihr altes Haus brachte. „Irgendwann muss Schluss sein damit“, sagt der 55 Jahre alte Autoschlosser, drückt das Kinn auf die Brust und die Finger auf die Augen. Es ist nicht Schluss.

Seit fünf Jahren, sagt seine Frau, gebe es da nämlich dieses Gefühl. Es ist ein Gefühl, dass seit der Flut noch etwas anderes fehlt als nur das alte Haus. In der „Straße des 12. August“, in der die Fritzsches heute wohnen, geht es nicht nur ihnen so.

Bis vor fünf Jahren lebten die Fritzsches in Weesenstein, Sachsen, einem idyllischen Örtchen mit Schloss, Fluss und Barockgarten, gut 20 Kilometer südöstlich von Dresden. Am Nachmittag des 12. August 2002 kam die Müglitz durch ihr Wohnzimmerfenster. Der Fluss umspülte das Sofa, riss an den Schränken und dann zwei Außenwände des 300 Jahre alten Hauses mit sich fort. In Weesenstein nahm das Hochwasser damals zehn Häuser mit, zwei Menschen ertranken, eine Nachbarsfamilie, die Jäpels, entkam dem Tod nur, weil sie eine Nacht auf einer Mauer in den reißenden Fluten ausharrte. Das Bild der Jäpels machte Weesenstein in Deutschland bekannt und löste eine Spendenwelle aus für den Ort und die damals noch etwa 200 Bewohner.

Und so gerieten Fritzsches und die anderen Heimatlosen von Weesenstein zumindest in keine finanzielle Not. Mehr als 2,5 Millionen Euro flossen auf die drei Spendenkonten des Dorfes. Hinzu kamen Sachspenden – Kühlschränke, Herde, Sofas – und Besucher, wildfremde Menschen, die den Weesensteinern Umschläge mit Geld in die Hand drückten. Die Kirchengemeinde stellte im Nachbarort Burkhardswalde Baugrund zur Erbpacht bereit, ein Bauunternehmer errichtete darauf Häuser, und der Gemeinderat nannte die neue Adresse nach dem Tag der Katastrophe: „Straße des 12. August“.

Zwei Jahre nach der Flut ziehen die Fritzsches in das Haus mit der Nummer 9. Es ist ein frei stehendes, lindgrünes Haus mit blitzendroten Dachpfannen und akkurat getrimmtem Rasen. Bis auf die Farbe sehen alle Häuser der Straße so aus, ein Idyll. Doch vorbei ist es trotzdem nicht.

Das Paar kommt endlich ein wenig zur Ruhe. Zuvor war die Zeit stets gefüllt gewesen, zuerst mit Schlammschippen, dann mit Behördengängen und dem Schreiben von Anträgen. „Die Arbeit hat zunächst geholfen, mit dem Ganzen klarzukommen“, sagt Rudolf Fritzsche. Seine Frau aber sagt: „Es war viel.“ Und das ist wohl noch untertrieben. Fünf Tage nach dem Einzug, im Mai 2004, wird der 49 Jahre alten Frau schwarz vor Augen. Sie ist gerade im Garten. Die Ärzte im Krankenhaus sagen: Herzinfarkt. Kerstin Fritzsche sagt: „Wohl die Belastung.“

Es gibt nicht nur die Anstrengung, den Stress, die Ungewissheit der ersten Wochen. Es gibt auch Neid. Rudolf Fritzsche ist in Weesenstein seit 25 Jahren Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr. An einem Abend sagt ihm ein Kamerad, dem selbst der Keller vollgelaufen ist: „Rudi, du hast doch Glück gehabt. Sie haben dir ein Haus geschenkt.“ Heute, sagt Rudolf Fritzsche, gehe er nicht mehr zur Feuerwehr. Was weiß ein Feuerwehrmann schon von Ohnmacht? „Wenn das Feuer kommt“, sagt Rudolf Fritzsche, „kannst du es aufhalten, es bekämpfen. Wenn das Wasser kommt, kannst du nichts machen. Nur warten. Und sei es auf den Tod.“

In den Geschichten der Bewohner der „Straße des 12. August“ kehren Neid und Ohnmacht immer wieder. „Für die anderen sind wir immer noch diejenigen, die alles vergolden konnten“, sagt Anke Meyer-Wilk. Die 36 Jahre alte Krankenschwester lebt mit ihrem Mann, zwei Töchtern und zwei Hunden ganz am Anfang der Straße in einem hellblauen Doppelhaus mit großem Hof. Die Familie zog damals als erste von Weesenstein hierher.

„In Weesenstein war die Straße, in der wir damals wohnten, so etwas wie das Wohnzimmer des Ortes. Man traf sich und redete über den Zaun hinweg“, sagt Anke Meyer-Wilk. Heute sitzt sie, während die Kinder im Hof spielen, in ihrer Garage und erzählt davon, wie es ist, wenn alles wiederkommt. Es gebe da so Situationen. Wenn sie Heizöl rieche beispielsweise. „Damals stank es. Die Öltanks unserer Nachbarn waren losgerissen worden und schlugen gegen das Haus“, sagt sie. Unter dem Beschuss brach nach einer Weile die Hälfte des Hauses ein, kurz nachdem sich die Meyer-Wilks auf das Dach des Nachbarhauses gerettet hatten.

Und dann gibt es da diese Geräusche, Nicht-vorbei-Geräusche: das Rauschen eines schnell fließenden Flusses, das Krachen brechender Äste, Wind, der an den Dachziegeln rüttelt. „Katastrophenfilme kann ich auch nicht mehr ansehen“, sagt Anke Meyer-Wilk. Kürzlich saß sie in der Holzachterbahn eines Freizeitsparks. Als die Fahrt zu Ende war, habe sie stocksteif in ihrem Sitz gehockt, „als hätte man mich zu einem Paket verschnürt“. Aus irgendeinem Grund war die Angst, die sie am 12. August gespürt hatte, zurückgekommen.

Es gibt noch ein paar Videokassetten von den Tagen nach der Flut. Die Meyer-Wilks haben sie sich bisher nicht angesehen. „Ich würde doch nur vor dem Fernseher sitzen und heulen“, sagt sie. Und: „Die Gefühle würde ich wohl nicht aushalten.“

Während sie erzählt, kommt Anke Meyer-Wilks Mann zur Tür herein. Sie fragt, ob seine Heimat nun hier sei in dem Haus in der „Straße des 12. August“. Er sagt nur „Hier? – Ne!“ und verschwindet aus dem Zimmer. „Sven verdrückt’s“, sagt sie. Das Haus in Weesenstein war das Vaterhaus ihres Mannes. Sie durften es nicht wieder aufbauen.

Manchmal gehen die Meyer-Wilks am Sonntag nach Weesenstein und spazieren durch den Ortskern. Dort, wo das Haus der Fritzsches gestanden hat, ist jetzt ein rechteckiges, vielleicht 30 Zentimeter tiefes Becken, in dem immer noch kein Gras wächst. Bald soll hier ein Spielplatz hinkommen, obwohl es kaum mehr Kinder gibt in Weesenstein. „Wir hoffen ja, dass bald wieder welche herziehen“, sagt eine Anwohnerin.

Die Meyer-Wilks gehen dann manchmal auf einen Kaffee in das Café Kaiserstüb’l. Dort informieren inzwischen Wasserstandsplaketten die Touristen darüber, dass die Flut bis zu den Stuhllehnen gestanden hat. Einmal hat Anke Meyer-Wilk ihren Sven gefragt, wo genau denn noch mal ihr Haus gestanden hatte. Was die Flut in ihnen selbst weggerissen hat, darüber haben sie bis heute nicht gesprochen, sagt sie.

Steffen Kraft[Müglitztal]

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