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© Rückeis

Franz Müntefering: "Es gibt kein Lehrbuch für die Krise"

SPD-Chef Müntefering über die Pflicht zur Rettung von Unternehmen, die Rolle der Union und die Europawahl.

Herr Müntefering, dürfen wir gratulieren?



Gern, und zwar am Abend des 7. Juni zum Erfolg der SPD bei der Europawahl.

Wir meinten eigentlich etwas anderes.

So? Was denn?

Den Umstand, dass die Niederlage Ihrer Kandidatin Gesine Schwan bei der Wahl des Bundespräsidenten wegen des Ringens um die Opel-Rettung so schnell in Vergessenheit geraten ist.

Niederlage?

Sie wollen sagen, das war keine Niederlage?

Das war ein knapper Sieg des Bundespräsidenten. Als Demokraten akzeptieren wir das und haben ihm gratuliert. Und Gesine Schwan hat unseren großen Dank. Sie hat mit ihren Debattenbeiträgen ein gutes Zeichen gesetzt: Demokratie braucht Alternativen. Sie hat knapp verloren.

Gesine Schwan fehlten zehn Stimmen aus den Fraktionen von SPD und Grünen. Kann man da von knapp sprechen?

Horst Köhler hat im ersten Wahlgang mit einer Stimme Mehrheit gewonnen. Dabei blieb unklar, ob sein eigenes Lager komplett zu ihm stand. Was andere, weitere Wahlgänge gebracht hätten, weiß kein Mensch.

Welche Rolle wird Frau Schwan in der SPD in Zukunft spielen?

Auch nach der Bundestagswahl werden wir uns mit dem Wandel und der gesellschaftlichen Gestaltung unseres Landes auseinandersetzen. Die Frage, wie wir leben wollen im neuen Jahrzehnt, steht ganz oben auf der Tagesordnung. Gesine Schwan hilft uns, jenseits der Tagespolitik die langen Linien unseres Handelns im Blick zu behalten. Ihre Arbeit in der SPD-Grundwertekommission ist und bleibt sehr wichtig für uns.

Herr Müntefering, warum kann Deutschland nicht auf einen mäßig erfolgreichen Autohersteller wie Opel verzichten?

Deutschland ist ein Industrieland und muss das auch bleiben. Wir müssen dafür sorgen, dass in der Krise die Arbeitsplätze nicht für immer verloren gehen. Was De-Industrialisierung bedeutet, haben wir nach dem Zusammenbruch der DDR erleben müssen. Da ist viel plattgemacht worden. Wer das einmal verliert, kriegt das nur schwer wieder zurück.

Viele Betriebe im Osten waren schlicht nicht überlebensfähig.

Opel ist aber leistungsfähig. Wir kämpfen nicht für irgendein Phantom, sondern für eine realistische Perspektive. Da müssen wir nun den Atem haben, für einen gewissen Zeitraum zu stabilisieren und Brücken zu bauen. Dann wird da auch neues Wachstum entstehen. Wenn man Opel kaputtgehen ließe, würden wir an den Produktionsstandorten vier riesige Krater aufreißen. Es würden 140 000 bis 150000 Arbeitsplätze vernichtet. Das würde die Wachstumsraten der kommenden Jahre deutlich nach unten drücken.

Würde die deutsche Autoindustrie ohne Opel zusammenbrechen?

Gegenfrage: Sollen wir deshalb auf einen zukunftsfähigen Teil unserer Industrie verzichten? Wem wollen Sie denn das erklären? Opel hat darunter gelitten, dass die Mutterfirma in den USA offensichtlich schlecht geführt war und Geld abgezogen und verbraucht hat, das in den innovativen Werken Europas verdient wurde und dort auch gebraucht wurde. Also warum diese Industrie und ihre Arbeitsplätze kaputt gehen lassen?

Vielleicht weil jede Rettungsaktion neue Forderungen nach sich zieht. Wer Opel hilft, kann Arcandor/Karstadt die Unterstützung kaum verweigern.

Da habe ich gar kein Problem mit. Die Bürgschaft, um die es da geht, scheint mir notwendig und zukunftsträchtig. Wir werden versuchen, Arcandor/Karstadt zu helfen. Wir wollen zeigen, dass wir nicht nur industrielle Arbeitsplätze retten, sondern auch solche im Dienstleistungsbereich und Arbeitsplätze für Frauen. Das ist ganz wichtig für die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft. Auch für die Zuversicht im Lande.

Von welchen Kriterien lässt sich der Staat bei der Milliardenhilfe leiten?

Eine Pauschalregel nach dem Motto, entweder wir helfen allen oder wir helfen keinem, bringt uns nicht weiter. Dann kann die Politik abdanken und man kann das Ganze ja einem Verwalter übereignen. Schauen Sie: Es gibt kein Lehrbuch für die Krise, in der wir sind. Wir müssen Firmen, die aus System- und grundsätzlichen Gründen relevant sind, zu stabilisieren versuchen.

Ursprünglich wollte die Koalition nur solchen Unternehmen helfen, die vor dem Ausbruch der Krise im Kern gesund waren, und hat dafür einen Stichtag gesetzt, nämlich den 1. Juli 2008. Arcandor/Karstadt hatte schon vor Beginn der Krise massive Schwierigkeiten. Warum soll der Steuerzahler jetzt für das Missmanagement der Konzernmanager geradestehen?

Das ist nicht das Kriterium. Manchmal kommt man in politische Situationen, wo man nicht alle Ziele gleichzeitig erreichen kann. Dann muss man sich für die entscheiden, die einem am wichtigsten sind. Also: Arbeit sichern und schaffen.

Die Politik muss notfalls denen helfen, die für die Krise verantwortlich sind?

Wir lassen nicht aus Zorn über die Verursacher die Betroffenen im Stich. Denken Sie an die großen Lebensversicherungen, die wir mit den Banken gerettet haben. Die essen alle kein trocken Brot in den Chefetagen, da mache ich mir keine Illusionen. Ich kann aber die Schwachen nicht im Stich lassen, nur weil ich mich als erstes an den Reichen rächen will, die die Karre in den Dreck gefahren haben.

Wer hat am meisten zur Opel-Rettung beigetragen? Kanzlerin Merkel, Vizekanzler Steinmeier oder beide zusammen?

Wir haben von Anfang an Druck gemacht, während einige in der Union nach Begründungen suchten, warum Opel nicht zu retten sei. Wobei ich glaube, dass all diese Dinge nicht letztlich entscheiden über den Ausgang der Bundestagswahl. Aber: Sie sind sehr wichtig für die politische Stimmung im Lande und das Vertrauen der Menschen in die Politik und in die Demokratie.

Wirtschaftsminister zu Guttenberg hat wiederholt eine Insolvenz von Opel ins Gespräch gebracht. War das hilfreich?

Das Nötige zuerst: retten und sichern. Über die Rolle Einzelner in der ganzen Opel-Frage wird zu sprechen sein. Aber auch über das lange Zögern der Union, was die Verantwortung des Staates in dieser Situation angeht.

Halten Sie eigentlich an Ihrer Darstellung fest, wonach die SPD in der Koalition der verlässliche Partner ist und die Union wegen einer führungsschwachen Kanzlerin unberechenbar bleibt?

Diese Beschreibung gilt. Insgesamt ist die sozialdemokratische Linie in der großen Koalition erkennbarer, belastbarer, ehrlicher, auch mutiger als das, was die Union abliefert. Die Union behauptet oft alles und jedes, wild durcheinander. Und die Kanzlerin gibt sich auch gar keine Mühe, eine Linie vorzugeben.

Sie sagen, die SPD sei die verlässliche Kraft in der Koalition. Nun stellt Ihre Partei aber den Kompromiss beim Thema Schuldenbremse zur Disposition. Wo ist da die Führung?

Es ist ja nicht so, wie Sie das beschreiben. Wir haben im Koalitionsausschuss zusammen mit Frau Merkel und der CSU eine Schuldengrenze von 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vereinbart, nämlich 0,35 für den Bund und 0,15 für die Länder und damit auch Kommunen. Das ist der Koalitionsbeschluss.

Danach haben sich die Länder aber darauf verständigt, ihre Verschuldung auf null Prozent zu drücken. Hat die SPD dem nicht zugestimmt?

Alle Länder haben von sich aus im Verfahren erklärt, die Verschuldung bis 2020 auf null zu bringen. Weil CSU-Chef Horst Seehofer gedroht hat, wenn das nicht kommt, passiert überhaupt nichts. Dem hat Frau Merkel dann wieder mal nichts entgegengesetzt. Also: Nicht die SPD hat ihr Wort gebrochen, sondern die CSU – unter Duldung der CDU-Vorsitzenden.

Hat Fraktionschef Peter Struck als einer der Chefs der Kommission zur Föderalismuskommission II dem nicht zugestimmt?

Er hat das zur Kenntnis genommen. Als die Nullnull gestanden hat, haben sich Landtagsfraktionen und Kommunen zu Wort gemeldet und darüber geklagt. Da haben wir gesagt: Von uns aus können wir zur ursprünglichen Regelung von 0,15 Prozent zurückkehren. Das müssen die Länder nun entscheiden. Wenn sie das nicht wollen, dann ist das ihre Entscheidung. Auch ihre Verantwortung.

Zu Anfang haben Sie gesagt, Sie würden am 7. Juni gern die Glückwünsche zum Erfolg der SPD bei der Europawahl entgegennehmen. Ist es schon ein Erfolg, wenn die SPD ihr desaströses Ergebnis von rund 20 Prozent diesmal um ein paar Punkte steigern kann?

Erfolg ist, wenn der rote Balken hochgeht, und der schwarze Balken runter. Ich empfehle, rechtzeitig die Vasen vor dem Fernseher in Sicherheit zu bringen, weil am Wahlabend die schwarzen Balken unten rauskommen werden.

Interessieren die Menschen sich denn wirklich für Europa?

Die Wahlbeteiligung bei Europawahlen ist traditionell nicht hoch. Aber die Zahl derjenigen wächst, die verstanden haben, was die Entscheidungen in Brüssel mit unserem Leben hier zu tun haben. Wer die Finanz- und Wirtschaftskrise in den Griff bekommen will, kann das nicht allein mit nationaler Politik. Das muss in Europa geschehen. Wer Mindestlöhne statt Dumpinglöhne will, muss ebenfalls das Soziale in Europa stärken. Entsprechend haben wir zusammen mit dem DGB die Idee einer sozialen Fortschrittsklausel für Europa formuliert.

Warum gilt Ihr Bekenntnis zu europäischen Lösungen in der Krise nicht auch für den Sanierungsfall Opel? Andere EU-Länder mit GM-Standorten klagen schon laut über den deutschen Alleingang.

Wir haben keine europäische Regierung. Der Schwerpunkt von Opel Europa liegt in Deutschland. Das ist keine Frage. Natürlich muss man in Europa die Zusammenarbeit suchen. Das steht aber nicht im Widerspruch dazu, national zu handeln.

Den Weg der SPD im Wahljahr haben Sie häufig mit dem Satz beschrieben: Boden festklopfen, Leiter aufstellen, hochklettern. In welcher Phase befindet sich die SPD derzeit?

Wir sind in einem Plus-Stau.

Das heißt?

Wenn der Knoten platzt, gibt es einen deutlichen Aufstieg für uns. Wir haben nicht nur den Boden festgetrampelt, sondern auch noch ein bisschen Erde aufgeschüttet.

Und am vergangenen Wochenende bei der Niederlage von Gesine Schwan hat die Leiter ein bisschen gewackelt?

Nein, das hatte damit nichts zu tun.

Kann die Leiter umfallen, wenn die SPD nach den Wahlen in Thüringen und Sachsen Ende August über zwei rot-rote Koalitionen verhandeln muss?

Dafür gäbe es dann zwei CDU-Ministerpräsidenten weniger. Nicht nur deshalb würde diese Rote-Socken-Kampagne der Union weder in Thüringen noch im Saarland noch bei der Bundestagswahl eine Wirkung zeigen. Deutschland ist viel liberaler und vernünftiger, als manche Wahlkämpfer in der Union das glauben. Auf der Bundesebene gibt es keinerlei Zusammenarbeit der SPD mit der Linkspartei. Das wissen die Menschen. Die SPD in den jeweiligen Ländern schließt eine Koalition mit der Linkspartei nicht von vorneherein aus und wird diese Frage im Licht der Wahlergebnisse klar, offen und schnell beantworten. Das ist der entscheidende Punkt. Es wird in den Wochen zwischen den Wahlen für alle nachvollziehbar sein, was sich da abspielt. Deshalb wird die SPD im Saarland und Thüringen nach dem Wahltag bald sagen, ob sie Verhandlungen mit der Linkspartei führen will.

Das Gespräch führten Stephan Haselberger und Hans Monath. Das Foto machte Thilo Rückeis.


Zur Person

RÜCKKEHRER

Zum zweiten Mal steht der 69-Jährige an der Spitze der SPD. Wie vor vier Jahren muss er auch im Wahljahr 2009 eine Aufholjagd gegenüber der Union organisieren. Der Europawahl soll beweisen, dass die SPD auf dem rechten Weg ist.

WARNER

Das Comeback als Parteichef im Herbst 2008 fiel in die Anfangsphase der Finanz- und Wirtschaftskrise. Der Erfinder des Begriffs „Heuschrecken“ glaubt, dass nun sozialdemokratische Antworten gefragt sind.

ANGREIFER

Leicht zu fassen ist der Gegner nicht. Müntefering warnt deshalb vor einer Wiederauflage des „neoliberalen Projekts“ von Union und FDP.

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