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Neue Heimat – oder nur Zwischenstation? Seit Freitagabend logiert Michail Chodorkowski im Hotel Adlon am Pariser Platz in Berlin.

© dpa

Freigelassener Kremlkritiker: Michail Chodorkowski, der Held der Heimat

Russische Ultraliberale bejubeln den kremlkritischen Oligarchen Chodorkowski. Umstritten ist, ob seine Begnadigung mehr Vertrauen in den Staat schafft.

Gott sei Dank, sagte Alexander Rahr, der Russland-Experte. Er ist der Mann, der nach der Landung des kremlkritischen Oligarchen Michail Chodorkowski in Berlin neben diesem und Alt-Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) zu sehen war. Deutschland verfüge, erklärte Rahr, noch über „halb verschüttete“ Zugangskanäle, die andere westliche Staaten, darunter auch die USA, in Moskau nicht mehr hätten. Die gesamte Befreiung Chodorkowskis sei eine Angelegenheit „deutscher Geheimdiplomatie“ gewesen, fügte der Osteuropa-Historiker hinzu – auf Russisch in einem Interview für den kremlkritischen TV-Sender RTVI.

RTVI ist ein jämmerlicher Rest des Medien-Imperiums, das einst dem kremlkritischen Oligarchen Wladimir Gussinski gehörte und von Gazprom kurz nach Putins Machtantritt zerschlagen wurde. Der Sender ist nur in einigen Kabelnetzen zu empfangen und vor allem im Internet, sendet aber nicht auf einer terrestrischen Frequenz.

Chodorkowski wurde gefragt, ob er bereit sei, ins Ausland zu gehen

Dort gab Rahr auch Details vom Finale zum Besten. Demzufolge wurde Chodorkowski Freitag um zwei Uhr nachts – mehrere Stunden bevor bekannt wurde, dass Putin den Gnadenerlass unterzeichnet hat, dem „Direktor des Konzentrationslagers“ – Rahr sagte das genau so – vorgeführt. Dieser habe Chodorkowski gefragt, ob er bereit sei, ins Ausland zu gehen. Der Oligarch habe bejaht, sei dann per Helikopter nach St. Petersburg geflogen worden und habe dort das Privatflugzeug bestiegen, das kurz nach 15 Uhr in Berlin-Schönefeld landete.

Nach Informationen russischer Medien ist Deutschland für Chodorkowski nur Zwischenstation. Eigentlich wolle er sich in der Schweiz niederlassen. Auch die Grünen-Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck sagte nach einem einstündigen Gespräch mit Chodorkowski, dass dieser offenbar nicht umgehend nach Russland zurückkehren wolle. „Eine Rückkehr nach Russland steht nicht auf der Tagesordnung“, sagte sie am Samstag. Chodorkowski hatte am Freitagabend eine Erklärung verbreiten lassen, laut der er sich künftig für jene einsetzen wolle, die aus Gewissensgründen in russischen Gefängnissen schmachten. Vor allem für seinen ehemaligen Juniorpartner und Mitangeklagten Platon Lebedew. Dieser war 2005 und 2010 wegen angeblicher Wirtschaftsvergehen zu ähnlich hohen Haftstrafen verurteilt worden wie Chodorkowski, der die Opposition unterstützt hatte und den Geschäftsinteressen von Putins Amigos in die Quere gekommen war. Anders als Chodorkowski hat Lebedew nicht um allerhöchste Milde gebeten.

Sollte Chodorkowski dennoch nach Russland zurückkehren wollen, steht dem offenbar nichts im Wege. Putins Freund Igor Setschin, Vizepremier und Vorstandschef des staatlichen Ölgiganten Rosneft – dieser hatte Chodorkowskis Vorzeige-Konzern Jukos 2006 bei einer umstrittenen Auktion zum Dumpingpreis „ersteigert“ – kann sich sogar vorstellen, Chodorkowski künftig im Top-Management seines Unternehmenes zu beschäftigen. Chodorkowski habe jederzeit das Recht nach Russland zurückzukehren, sagte auch Putins Sprecher Dmitri Peskow. Der Oligarch habe dem Kremlchef nicht nur ein Gnadengesuch, sondern auch einen persönlichen Brief geschickt. Zu dessen Inhalt wollte Peskow sich nicht äußern. Ob Chodorkowskis Freilassung an Auflagen gebunden ist – darunter Verzicht auf politische Betätigung – blieb ebenfalls unklar.

Ultraliberale jubelten Chodorkowski in ihrer Euphorie bereits zum „geistigen Führer“ der Nation hoch – eine Institution, die es derzeit nur im Iran gibt. Chodorkowski sei der einzige Mann, vor dem Putin Angst habe, sagte die Publizistin Mascha Gessen der niederländischen Zeitung „De Telegraaf“. Dabei ist Gessen seit ihrem kurzen Gastspiel als Chefin des russischen Dienstes vom US-Auslandssender Radio Liberty der russischen Zivilgesellschaft verhasster als Putin selbst.

Chodorkowski wurde als Beauftragter für Menschenrechte vorgeschlagen

Ähnlich unangemessen wie Gessens Bemerkungen sind auch die Forderungen von zwei oppositionellen Duma-Abgeordneten: Dmitri Gudkow und Ilja Ponomarjow. Beide gehörten zu den Führern der Massenproteste nach den umstrittenen Parlamentswahlen 2011 – nach ihrem Vorschlag soll Chodorkowski den Posten des Beauftragten für Menschenrechte des Präsidenten bekommen, der in Kürze neu vergeben wird.

Die Freilassung Chodorkowskis werde für die Wirtschaft und das politische Leben Russlands folgenlos bleiben, vermutet der vormals kremlnahe, aber inzwischen in Ungnade gefallene Politikwissenschaftler Gleb Pawlowski. Er sagt, man werde Chodorkowski nicht erlauben, darauf Einfluss zu nehmen. Den Niedergang der russischen Wirtschaft können nur umfassende Reformen stoppen, warnt auch der kremlkritische Wirtschaftswissenschaftler Michail Chasin. Sein Kollege Jewgeni Jassin dagegen hofft, Chodorkowskis Begnadigung werde das Vertrauen der Wirtschaft in den Staat wiederherstellen und das Wachstum ankurbeln.

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