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Sarrazins Thesen: Fremd im eigenen Land

Mit seinen Thesen provoziert Thilo Sarrazin sogar Kanzlerin Angela Merkel. Eine streng wissenschaftliche Grundlage für seine Argumentation gibt es nicht. Experten widersprechen seinen Aussagen.

Berlin - Die ersten 25 000 Exemplare sind bereits vergriffen, weitere 15 000 vorbestellt und 30 000 sollen danach noch gedruckt werden. Dabei ist der 464 Seiten dicke Wälzer „Deutschland schafft sich ab“ erst ab kommenden Montag zu kaufen. Fast genau ein Jahr nach dem Aufruhr um sein Interview im Kulturblatt „Lettre international“ zieht Berlins Ex-Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) erneut blank. Wieder geht es gegen Muslime, die er zur Gefahr für Deutschlands Identität erklärt.

Der „Spiegel“ druckt das Kapitel über Migration in seiner aktuellen Ausgabe vorab und schreibt, Sarrazin habe versucht, seine Thesen „auf eine breitere, statistische Basis zu stellen“. Im „Lettre“-Interview hatte Sarrazin, der seit 2009 im Vorstand der Bundesbank sitzt, etwa behauptet, 70 Prozent der türkischen und 90 Prozent der arabischen Bevölkerung Berlins lehnten den Staat ab, sorgten nicht ordentlich für die Ausbildung ihrer Kinder und produzierten „ständig neue kleine Kopftuchmädchen“. Der „Süddeutschen Zeitung“ gestand er später unverblümt, wenn man keine Zahl habe, müsse man „eine schöpfen“. „Und wenn sie keiner widerlegen kann, dann setze ich mich mit meiner Schätzung durch.“

Auch nach einem Jahr aber ist sein Umgang mit Zahlen und Daten nicht wesentlich solider. So wirft Sarrazin die Frage auf, ob die Gastarbeiter und deren Familien für Deutschland überhaupt einen Beitrag zum Wohlstand erbracht haben oder erbringen werden. Obwohl es, schreibt er, dafür keine „belastbaren empirisch- statistischen Analysen“ gebe, zieht er doch den Schluss, dass man das „für Italiener, Spanier und Portugiesen wohl bejahen könne“. Die seien nämlich mit weniger Anhang gekommen und „die meisten“ seien zudem zurückgekehrt.

Das kann Gari Pavkovic nicht bestätigen. Er leitet die Stabsabteilung für Integration in Stuttgart, der Stadt, die nach dem ersten Anwerbevertrag mit Italien 1955 bald zur Heimat der größten italienischen Gemeinschaft jenseits der Alpen wurde. Die Europäer, sagt Pavkovic, gingen nicht öfter und lieber zurück in die alte Heimat als Türken. „Unter Italienern, Griechen, Ex-Jugoslawen gibt es exakt die gleiche Tendenz zur Verfestigung des Aufenthalts wie bei Türken auch.“ Und gerade die Italiener seien auch kein Muster geglückter Integration. Im deutschen Schulsystem schnitten sie als Gruppe seit langem nicht besser ab als Türken. Pavkovic empfiehlt Sarrazin die Lektüre von Milieustudien, um sein „Hauptproblem“ zu kurieren, nämlich „die Muslime“ als homogene Einwanderergruppe zu etikettieren. Sie seien aber nicht weniger unterschiedlich als „die“ Deutschen.

Auch in Frankfurt am Main hätte der studierte Volkswirt dazulernen können. Die Bankenstadt, in der sein Schreibtisch steht, hält mit Stuttgart unter den deutschen Großstädten einen Spitzenplatz, was den Migrantenanteil unter den Einwohnern angeht. Drei Viertel von ihnen kommen dem jüngsten Integrationsbericht der Stadt zufolge aus der EU und dem übrigen Europa. Aber auch bundesweit haben 70 Prozent der Migranten ihre Wurzeln im europäischen Teil des – meist – christlichen Abendlands. Sarrazin, der „nicht möchte, dass das Land meiner Enkel und Urenkel zu großen Teilen muslimisch ist“, müsste also eigentlich beruhigt sein.

Sarrazins Ausfälle im vergangenen Jahr brachten ihm ein Parteiausschlussverfahren ein, die Berliner SPD-Kreisverbände Alt-Pankow und Spandau ließen ihren Rassismusvorwurf sogar durch eine wissenschaftliche Expertise untermauern. Doch sie kamen nicht durch. SPD-Chef Sigmar Gabriel schließt nun ein neues Verfahren nicht aus. Die SPD werde sich Sarrazins Veröffentlichung genauer ansehen, kündigte Gabriel auf einer Diskussionsveranstaltung in Rheinland-Pfalz an: „Ich will jetzt prüfen, ob er Bevölkerungsgruppen Charaktereigenschaften zuweist. Das wäre dann eindeutig rassistisch.“ Die Sprache, deren sich Sarrazin im Buch bedient, sei „gewalttätig“. Er wisse nicht, warum dieser noch Mitglied der SPD sein wolle.

„Seine Masche ist immer dieselbe: An allen Integrationsproblemen ist der Muslim Schuld“, sagt Aiman Mazyek vom Zentralrat der Muslime. „Spalten statt Versöhnen, indem er sich als den besseren Menschen gegenüber Migranten und Muslimen darstellt.“ Auch die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Christine Lüders, sagt: „Klartext reden – das gehört zur Demokratie. Peinliche Hasstiraden verbreiten nicht. Sarrazin bekommt damit nur die Aufmerksamkeit, nach der er giert, und wir eine Spaltung der Gesellschaft.“

Auch Kanzlerin Angela Merkel äußerte sich entrüstet: Regierungssprecher Steffen Seibert sprach am Mittwoch von Darstellungen, „die die Bundesregierung, die Bundeskanzlerin nicht ganz kalt lassen“. Sarrazins Sätze seien „überhaupt nicht hilfreich“ in der „großen nationalen Aufgabe in diesem Land, bei der Integration voranzukommen“. mit sjk/has/rtr

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