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Politik: Freuen Sie sich, Herr Cohn-Bendit?

Der grüne Europaabgeordnete über die EU-Osterweiterung, ein Referendum in allen Mitgliedsländern und deutsche Miesepeter

Herr CohnBendit, wo haben Sie das größere Europa gefeiert?

In Potsdam auf einer Wahlkampfveranstaltung. Ich habe gerade eine Runde in den Beitrittsländern hinter mir. Unsere Arbeit haben wir getan. Im Wahlkampf aber macht man Wahlkampf.

Bei der Europawahl im Juni werden die Grünen ausgerechnet durch Osteuropa geschwächt werden!

Das ist eine historische Ironie. Die Grünen-Fraktion im Europaparlament hat wie keine andere für die Erweiterung gekämpft. Gleichzeitig wussten wir immer, dass wir vorerst nur geringe Chancen auf Stimmen aus den Beitrittsländern haben. Der Grund ist: Wir können keine Wendepolitiker aufbieten, die dort vom alten System übergetreten sind. Deshalb investieren wir langfristig und bereiten damit die Europawahl 2009 vor.

Es tritt kein Bedeutungsverlust der Grünen durch die Erweiterung ein?

Nein.

Obwohl die Grünen faktisch eine westeuropäische Regionalpartei sind?

Ja. Ich sagen Ihnen, warum. Weil gerade die westeuropäischen Grünen in den Erweiterungsländern eine Resonanz haben, die manchmal die der heimischen Grünen dort übertrifft. Viele von uns sind dort bekannt durch unsere Unterstützung im Kampf gegen den Kommunismus. Deshalb gibt es eine Bedeutung für die Grünen, die über die reale Bedeutung der sich langsam entwickelnden grünen Ost-Parteien hinausgeht.

Grüner Postmaterialismus ist während der nachholenden kapitalistischen Entwicklung Osteuropas ein Luxus?

Wir kennen die Entwicklung doch aus den neuen Bundesländern. Auch da hat es in den meisten Landtagen gedauert, bis die Grünen so weit waren. In der sich materialistisch entwickelnden Gesellschaft gibt es aber einen postmaterialistischen Wert, der dort sehr angesehen ist, nämlich der Kampf gegen die Korruption. Das stärkt die Grünen, denn die sind anders als die meisten Angehörigen der Elite nicht in Korruption verwickelt.

Die Grünen als Korrektiv während der nachholenden ökonomischen Entwicklung?

Ja, Grüne sind das demokratisch-ökologische Korrektiv.

Würden Sie die Niedrigsteuern der Slowakei gerne korrigieren?

Es ist doch absurd, wie diese Debatte geführt wird. Jetzt heißt es, die Steuersätze in der Slowakei seien zu niedrig. Vor einem Jahr ging durch die ganze Republik ein Aufschrei, die deutschen Unternehmen würden gar keine Steuern mehr bezahlen. Wir müssen darüber reden, dass Unternehmenssteuern völlig unterschiedlich geregelt werden.

Sie wollen eine Einheitslösung?

Wir brauchen eine europäische Fiskalität, eine europäische Unternehmensbesteuerung. Das ist nach dem Euro nur logisch. Ich bin für einen Grundsatzbeschluss, dass wir das in zehn oder 20 Jahren wollen.

Sie wollen weg davon, dass die Regionen Europas sich in den Investitionsbedingungen Konkurrenz machen?

Ich will auch weg davon, dass sich Regionen innerhalb Europas in den Sozialbedingungen Konkurrenz machen. Ich will hin zu einem sozial kohärenten Europa, bei dem regionaler Wettbewerb nur ein Übergangsphänomen ist, um benachteiligte Regionen an den Durchschnitt heranzuführen.

Sie mahnen. Freuen Sie sich auch?

Und wie! Dass Europa sich eint, ist nichts weniger als ein Wunder. Wir hatten das Wunder vom Rhein, der ein Friedensfluss geworden ist. Das nehmen wir schon als selbstverständlich hin. Jetzt haben wir das Wunder von der Oder.

Von der Unfähigkeit zur Trauer zur Unfähigkeit zur Freude?

Absolut. Deutschland ist unfähig, sich zu freuen.

Wer ist der Miesepeter? Hans Eichel, weil er EU-Mindeststeuern will und andernfalls massive Arbeitsplatzverluste kommen sieht?

Das kann man ja diskutieren. Mich regt aber auf, dass so getan wird, als ob morgen alle Unternehmen in die Slowakei gingen. Wenn mir jemand sagt, das neue Europa kostet Geld, es gibt Probleme und Ängste, sage ich: Okay! Aber ich mache die Gegenrechnung auf: Was würde es kosten, wenn der Eiserne Vorhang noch intakt wäre? Wir haben 2002 für neun Milliarden Euro Maschinen in die Erweiterungsländer exportiert, mehr als nach Amerika. Das ist eine unglaubliche Sicherung von Arbeitsplätzen. Das ist Manna, Weihnachten und Ostern zugleich!

Warum schaffen wir dann Übergangsfristen?

Wir bräuchten sie nicht. Eine Übergangsregelung ist eine staatliche Förderung für den Schwarzmarkt. Machen wir uns doch nichts vor: Die Polen sind da. Sie kommen in die Alt-EU, haben ein Touristenvisum und fangen an zu arbeiten. Sie nehmen aber keine Arbeitsplätze weg, weil Sie die flexiblen Dienstleistungen, die von Polen angeboten werden, hier offiziell gar nicht bekommen. Das ist die Realität. Das Gleiche haben wir schon bei Spanien und Portugal gehabt. Auch da hatte man eine Übergangsregelung für die Freizügigkeit vereinbart, aber sie nach drei oder vier Jahren abgeschafft, weil niemand gekommen ist. Wenn alle hier arbeiten dürften, könnte der Schwarzmarkt halbiert werden.

Vor genau dieser Zuwanderung der Arbeitswilligen haben Millionen Deutsche aber Angst und sehnen sich in die kuschelig-behaglichen Zeiten der alten Bundesrepublik West – oder gar der DDR – zurück.

Das denken viele Deutsche. Ich weiß nicht, ob es die Mehrheit ist.

Und solche Menschen wollen Sie dann in einem Referendum auch noch über die Europa-Verfassung abstimmen lassen?

Sie unken ja genau wie Joschka Fischer! Es ist mir erst kürzlich in Frankfurt gelungen, Fischer klar zu machen, um was es mir eigentlich geht: Es gibt am gleichen Tag in ganz Europa ein Referendum. Die Verfassung ist angenommen, wenn die Mehrheit der europäischen Bürger Ja sagt und gleichzeitig in drei Vierteln der Staaten eine Mehrheit erreicht wird. Die Länder, die Nein gesagt haben, müssen innerhalb eines Jahres per Volksentscheid klären, ob sie in einem Europa mit dieser Verfassung bleiben wollen – oder gehen.

Und Fischer schließt sich dem an? Zumindest dementiert das Auswärtige Amt eine solche Kehrtwende.

Er hat seine Meinung geändert. Auch Fischer ist überzeugt, dass man einen solchen Volksentscheid gewinnen kann. Die Konsequenzen eines Neins müssen klar sein. Ich kann einen Volksentscheid nur gewinnen, wenn es um Europa geht. Wenn ich über einzelne Regierungen abstimmen lasse, verliere ich. Also muss ich europäisch diskutieren, eine europäische Öffentlichkeit schaffen. Eine solche Debatte – das wäre eine zweite Gründung Europas.

Das wäre es vielleicht – aber die Chancen für ein Zustandekommen eines solchen Referendums sind doch minimal!

Es ist zum Mäusemelken. Ein solches Referendum ist doch die realitätsnahste Position, um Chirac und Blair bei ihren Problemen mit Europa aus der Patsche zu helfen! Jetzt wird daran gedacht, dass Deutschlands und Frankreichs Parlamente gemeinsam die Europa-Verfassung beschließen. Klingt nett – ist aber Bauchtanz.

Und wie kommen wir vom Bauchtanz zu einer ernsthaften Beteiligung der Bürger?

Die Regierungen müssen begreifen, dass sie eine Riesen-Chance haben. Leider kann ich keine Wetten auf die Einsichtsfähigkeit von Schröder, Chirac oder Blair abschließen. Aber Fischer hat immerhin gesagt: Das Nachdenken muss beginnen. Für ihn ist dies also ein Argument von Gewicht. Ich jedenfalls wünsche mir, dass diese Idee nicht wieder eingemottet wird. Man sollte stets gebremst optimistisch bleiben. Es muss nur eine Mauer des Denkens fallen.

Helmut Kohl hat nicht nur geholfen, die Mauer im Osten einzureißen, er hat auch die Schlagbäume zu Frankreich eingerissen …

Ja, zu den Altvorderen muss man lieb sein: Kohl hat radikaldemokratisch demonstriert. Der eine rüttelt am Zaun des Kanzleramts, der andere an der deutsch-französischen Grenze. Jeder hat so seine Urwünsche.

… wir wollten eigentlich auf die Idee des Kerneuropa zu sprechen kommen. Ist Fischers Kehrtwende weg von dieser Idee richtig?

Es hat keine Kehrtwende gegeben. Im Kerneuropa-Konzept der Union ging es um Abgeschlossenheit und Ausschluss. Warum? Weil Kohl zwar den Euro wollte, aber keinen Club Méditerrané, also die fiskal angeblich unzuverlässigen Südländer mit im Boot. Der Euro und der Schengen-Raum beweisen, dass es unterschiedliche Geschwindigkeiten gibt. Aber hier darf nichts zementiert werden. Es gibt keine wirklichen Europäer, denen Halbeuropäer gegenüberstehen. So – und wenn jemand wie Fischer eben dies feststellt, sagt er dann ja oder nein zu Kerneuropa? Um diesen Wirrwarr aufzulösen, brauchen wir einen anderen Begriff. Wir brauchen ein Initiativeuropa: Jeder darf für alle denken, darf etwas beginnen, wobei die Willigen mitmachen, und dies alles auf der Basis eines hoffentlich bald existierenden Verfassungsrahmens.

Europas innere Entwicklung ist das eine. Aber Europa liegt in einer sich wandelnden Welt …

Die Erwartung der Welt an Europa ist seit dem 11. September eine ganz andere geworden. Unsere strategische Bedeutung hat sich gewandelt, weil Aufgaben auf uns zukommen, die unsere Gründungsväter sich nie hätten vorstellen können. Die transatlantischen Beziehungen alten Musters funktionieren nicht mehr, sie müssen neu begründet werden. Allein von der US-Position will die Welt nicht länger abhängen. Dies definiert den internationalen Anspruch an Europa. Und dem kann ein Europa nicht genügen, das sich selbst auf einen angeblichen Kern reduziert.

Überfordern solche Herausforderungen nicht die Bevölkerung Europas, die mit internen Reformen und dem Einigungsprozess des Kontinents genug zu tun hat?

Sowohl als auch. Warum sage ich das? Weil wir alle schizophren sind. Die Europäer sehen mehrheitlich ein, dass die Reform ihrer sozialen Sicherungssysteme notwendig ist - und zugleich stemmen sie sich energisch gegen jede konkrete Maßnahme. Europa war für die Verhinderung des Irak-Krieges; Europa steht für einen gerechten Ausgleich zwischen Israel und Palästina und gegen einseitige Parteinahmen à la Bush; Europa will eine gerechtere Globalisierung …

… und erreicht nichts davon?

… und zugleich haben viele unserer Bürger Verlustängste und wissen schlicht nicht, wie Europas Politik in der Welt funktionieren soll. Das aber darf uns nicht wundern. Europa ist ein Jahrhundertprojekt, das auf ein halbes Jahrtausend Geschichte antwortet. Europa ist ein Wunder, auch wenn belächelt wird, wer derlei sagt. Europa ist ohne Vorbild: eine Vereinigung von Staaten, die auf Kooperation und nicht Führung basiert. Napoleon, Hitler und Lenin hatten auch Projekte für ganz Europa. Wir aber setzen auf etwas Neues, auf Souveränitätsteilung. Das ist kulturell einmalig, und dies schafft natürlich Widersprüche. Deshalb sage ich über Europas Fähigkeiten: sowohl als auch.

Werden Sie Ihren Europa-Wahlkampf mit dem Thema Irak und Frieden bestreiten?

Wenn die Union sagt, sie habe im Irak-Krieg falsch gelegen, dann sage ich: Bravo, hurra, willkommen im Club. Nein, mit der Union ist die Türkei-Debatte viel spannender.

Sähen Sie auch über den türkischen EU-Beitritt gern ein Referendum?

Ich bin für Referenden, wo die Leute direkt betroffen sind und wo Angelegenheiten verhandelbar sind. Über die Todesstrafe oder zulässige Religionen in Deutschland würde ich niemals Referenden abhalten lassen. Religionsfreiheit und das Verbot der Todesstrafe stehen im Grundgesetz, punkt. Bin ich drin oder draußen in Europa? Das ist eine politische Entscheidung für ein Referendum. Was sollen andere machen? Das ist keine zulässige Frage. Über andere abzustimmen, ist unfair und gefährlich.

Wie lautet denn die Türkei-Botschaft im grünen Europa-Wahlkampf?

Sie betont den Zweiklang von Kampf gegen den fundamentalistischen Terrorismus und ausgestreckter Hand gegenüber einem säkularen, dem Recht verpflichteten, islamisch geprägten Staat. Wenn auf das Wunder des Rheins und das Wunder der Oder auch noch das Wunder vom Bosporus folgt – das wäre wahrlich ein Beispiel für die Welt. Die Beitrittsfähigkeit der Türkei entscheidet sich allerdings nicht im modernen Istanbul, sondern im kurdischen Diyarbakir. Wenn das Alltagsleben dort in zehn Jahren sozial, politisch und ökonomisch so demokratisch verläuft, dass Diyarbakir integrationsfähig ist, dann ist die Türkei integrationsfähig. Ich gebe ehrlich zu, dass ich nicht weiß, ob es gelingt. Aber es nicht zu probieren – das wäre sträflich.

Das Gespräch führten Albrecht Meier, Hans Monath und Robert von Rimscha

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