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Politik: „Fünf Deutschlands sind ein bisschen viel“ Der Historiker Fritz Stern über die Länder seines Lebens und die deutsche Identitätssuche als Modell für Europa

Professor Stern, Sie haben das Wort geprägt von der Wiedervereinigung als „zweite Chance der Deutschen in diesem Jahrhundert“. Haben wir diese Chance genutzt?

Professor Stern, Sie haben das Wort geprägt von der Wiedervereinigung als „zweite Chance der Deutschen in diesem Jahrhundert“. Haben wir diese Chance genutzt?

Diese zweite Chance lag für Deutschland aus meiner Sicht darin, nach der Wiedervereinigung das führende Land in Europa zu werden, nicht auf der Grundlage militärischer und materieller Macht, sondern innerlich gefestigt, friedfertig und im Bund mit Europa. In vieler Hinsicht ist das gelungen. Ein viel mächtigeres Deutschland agiert mit politischer Vorsicht, ist mit Frankreich eng verbunden und mit Polen und Tschechen versöhnt. Die materielle und psychologische Wiedervereinigung des Landes ist jedoch nicht so erfolgreich, wie man es hätte erhoffen können. In gewisser Weise ist die zweite Chance noch nicht genutzt, sie ist offen.

Woran liegt das?

Die erste Chance der Deutschen, der Aufbruch am Anfang des vergangenen Jahrhunderts, war durch eine Inkongruenz charakterisiert: der ungezähmte Nationalismus des wilhelminischen Machtregimes, diese verunsicherte Arroganz einerseits, und der blühende Unterbau des deutschen Geisteslebens andererseits. Es war das Unglück, dass die Politik des Landes die Blüte von Kultur und Wissenschaft zerstörte. Ich habe immer viel Abscheu für den deutschen Wilhelminismus gehabt, aber man muss nicht gleich ins Gegenteil umkippen.

Was ist denn das Gegenteil?

Die Stimmung in diesem Land ist geprägt von Melancholie, von Unzufriedenheit und Selbstzweifel. Anders gesagt: Die Stimmung ist heute alles andere als wilhelminisch.

Haben Sie das Gefühl, dass die Deutschen genug Vertrauen in sich selbst haben, um ihre Chance zu nutzen?

In den Achtzigerjahren war die Stimmung nicht so gedrückt. Man merkte, dass sich das Land sehr weit von 1945 erholt hatte, es gab ein Bewusstsein dafür, wie viel geschaffen worden war. Ich kann nicht verstehen, dass man sich heute so wenig daran erinnert, was alles erreicht wurde. Auch wenn ich es psychologisch nachvollziehen kann, sehe ich darin doch eine gewisse Undankbarkeit.

Hängt das damit zusammen, wie man in Deutschland manchmal argwöhnt, dass es an einem wirklich angemessenen Selbstgefühl fehlt? Dass dem Land etwas mehr Patriotismus und Identität gut täten?

Sicher steckt darin etwas Wahres. Es ist verdammt schwer, mit der Last der Vergangenheit zu leben. Aber lange Zeit fehlte die Identität auch nicht: Man gefiel sich darin, einem sich integrierenden Europa als wichtiges Land anzugehören. Außerdem hatte man in Deutschland das Gefühl, eine welthistorisch wichtige Funktion im Kalten Krieg innezuhaben. Es kann sein, dass auch der Wegfall dieser Funktion dazu beigetragen hat, die Euphorie nach der Wiedervereinigung in Enttäuschung umschlagen zu lassen.

1989 bedeutete aber auch die Rückkehr des deutschen, durch die Nazis zerstörten Nationalstaats.

Ja, aber eines ganz anderen als vorher. Früher spielte die Frage der Macht eine zentrale Rolle, die Erinnerung an militärische Erfolge und, vor allem, die Existenz gewisser politischer Institutionen. Was der deutschen nationalen Identität möglicherweise besonders fehlt, ist die Existenz solcher nationaler Institutionen, an denen man sich orientieren kann. Die Autobiographie, an der ich gerade schreibe, wird den Titel haben „Five Germanys I have known“, „Fünf Deutschlands in meinem Leben“. Das ist für ein so kurzes Zeitalter ein bisschen viel.

Kann man so eine Entwicklung bewusst befördern? Vor zwei Tagen, am 17. Juni, wurde Ihnen der Nationalpreis verliehen. Glauben Sie, dass sich dieser Tag als identitätsstiftendes Ereignis eignet?

Ich wünschte es mir. Der 17. Juni war der erste Versuch, innerhalb der sowjetischen Tyrannei einen Aufstand zu machen, der dann anderswo zum Teil erfolgreiche Nachspiele gefunden hat. Auf der anderen Seite muss man ehrlich sagen: Vergleicht man die DDR mit anderen Ostblockländern, gab es nach 1953 dort eher weniger Opposition als in Polen und in Ungarn. Ich bin mir also nicht sicher, ob man über so einen langen Zeitraum eine Kontinuität und Tradition herstellen kann. Wenn man jedoch diejenigen, die – in beiden deutschen Diktaturen – Widerstand geleistet haben, in größerem Maße ehrte, könnte das möglicherweise auch das Nationalgefühl stärken. Deutschland nimmt außerdem Schaden, wenn es seine Vorbilder deutscher Freiheits- und Anstandskämpfer ungenügend würdigt.

Wie wichtig ist diese Aufgabe, die Entwicklung eines nationalen Selbstgefühls, heute überhaupt noch?

Ein unbehaustes Nationalgefühl ist gefährlich. Und jetzt, wo Europa unter einem großen Schock steht, ist diese Aufgabe noch dringender. Denn die Wahrscheinlichkeit einer Renationalisierung in den anderen Ländern ist nun noch größer. Mir kam erst hier in Berlin ein Gedanke dazu, dass gerade die Deutschen auch anderen zeigen könnten, wie man sich gleichzeitig wieder national fühlt und trotzdem Europa trägt. Fichtes „Reden an die deutsche Nation“, aktualisiert und nicht nur auf Deutschland bezogen, also: „Reden auf Europa“.

Trauen Sie denn der deutschen Europabegeisterung? Womöglich wäre auch hier ein Verfassungsreferendum gescheitert.

Das will ich gar nicht ausschließen. Aber im Gegensatz zu den Deutschen hatten Frankreich und die Niederlande ein ungebrochenes Nationalgefühl, aus verständlichen Gründen. Wenn Deutsche sich bemühen, innerhalb von Deutschland ein vernünftiges Nationalgefühl zu stärken, könnte das auch für andere europäische Nationen interessant sein. Ich habe das Gefühl, dass der intellektuelle Dialog zwischen den Ländern Europas nicht genug vorangetrieben wird. Die Europäer orientieren sich zu wenig an dem, was ihre Nachbarn bewegt.

Die deutsche Identitätssuche als Modell für Europa? Eine Identität des gemeinsamen Erinnerns, auch über die nationalen Grenzen hinweg?

Ja. Denken sie an Alexander von Humboldt, der sich mitten im Krieg zwischen Preußen und Frankreich in Paris niedergelassen hat. Damals gab es selbst in Zeiten des Krieges etwas Gemeinsames. Wenn man sich mit der deutschen Geschichte auseinander setzt, müsste man – nicht aus ideologischen Gründen, sondern um der Wahrheit willen – sagen: Es gab immer schon ein Europa. Lange bevor es ein Brüssel gab, gab es Gemeinsamkeiten, die selbst der schlimmste Nationalismus nicht zerstören konnte, nämlich eine ausstrahlende europäische Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft.

Die Aufmerksamkeit für die deutsche Vertreibung gehört zum neuen Umgang mit der Vergangenheit. Sie haben selbst 1938 ihre Heimat Breslau verlassen. Wie bewerten Sie das, ist das ein Gewinn – oder ein Rückfall in alte Sentiments und Ressentiments?

Präsident Vaclav Havel hat sich als einer der Ersten bei den deutschen Vertriebenen entschuldigt. Das hielt ich damals für eine große und wichtige Geste. Man muss das Leid anerkennen und gleichzeitig betonen, dass man historisch nicht mehr daran rühren kann. Umgekehrt halte ich das polnische Bemühen um das deutsche Erbe und die deutsche Vergangenheit für eine erstaunliche Leistung. Das war, als ich 1979 zum ersten Mal nach Breslau zurückkehrte, noch nicht so. Die deutsch-polnische Versöhnung funktioniert auch deshalb, weil die Polen in dieser Hinsicht in der Wahrheit leben. Ich weiß nicht, ob die Tschechen das in irgendeiner vergleichbaren Weise tun.

Brauchen wir ein Zentrum gegen Vertreibung?

Mir liegt sehr viel mehr an einem Mahnmal für Menschen des Anstands – für alle Bereiche, auch der Vertreibung.

Wo sollte das hin? Nach Breslau?

Nein, Breslau ist zu weit weg. Ich würde Straßburg vorschlagen. Straßburg repräsentiert die unglückliche Tradition der Vertreibung in Europa am besten. Die Geschichte der Vertreibung der Deutschen aus Tschechien und Polen sollte in einen europäischen Kontext gestellt werden.

Das Gespräch führten Hermann Rudolph und Moritz Schuller. Das Foto machte Kai-Uwe Heinrich.

HISTORIKER

Fritz Stern, 1926 in Breslau geboren und 1938 nach Amerika emigriert, gilt als einer der bedeutendsten amerikanischen Historiker der Gegenwart. Bis 1997 lehrte er an der New Yorker Columbia University Europäische Geschichte.

BERATER

1990 versuchte Stern die britische Premierministerin Thatcher davon zu überzeugen, dass ein wiedervereinigtes Deutschland keine Bedrohung darstelle. 1993 fungierte er als Deutschlandberater des US-Botschafters Holbrooke.

PREISTRÄGER

Am 17. Juni wurde dem 79-Jährigen in Berlin der Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung verliehen.

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