zum Hauptinhalt

Politik: Gegen EU, Generäle und die Frommen

Zehntausende in Istanbul wollen Außenminister Gül als Präsidenten verhindern – aber auch einen Putsch

Auf dem Weg zur Großdemonstration zogen zehntausende Menschen am Sonntag in Istanbul an jenen Politikern vorbei, gegen die sie protestieren wollten: Das Hauptquartier der türkischen Regierungspartei AKP in der Bosporus-Metropole mit seinen großflächigen Bildern von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und Präsidentschaftskandidat Abdullah Gül liegt an einer Straße, die als Aufmarschgebiet für eine der größten regierungsfeindlichen Kundgebungen in der Geschichte der Türkei diente.

Wie bereits bei einer ähnlichen Veranstaltung in Ankara am 14. April demonstrierten in Istanbul die Anhänger einer nationalistischen Ideologie, die das Land von Islamisten und ausländischen Kräften gleichermaßen bedroht sehen. Auf dem Kundgebungsplatz forderten mehr als eine Million Menschen den Rücktritt der Regierung Erdogan und Güls Verzicht aufs Präsidentenamt. „Die Türkei ist laizistisch und wird es bleiben“, riefen sie. Redner verdammten Erdogans Kabinett als Islamisten-Club, der in der Türkei ein Scharia-Regime einführen wolle, und forderten vorgezogene Neuwahlen. Unter den Demonstrationsteilnehmern waren auffällig viele Frauen. Das sei ein Ausdruck des Islamismus-Verdachts gegen die Regierung, sagte der Politologe Ahmet Insel. Gleichzeitig wurde der Regierung der Ausverkauf nationaler Interessen vorgeworfen: „Nicht USA, nicht EU, sondern eine völlig unabhängige Türkei“, lautete ein Sprechchor.

Nur einen positiven Aspekt gab es für Erdogan: Viele Teilnehmer wandten sich nicht nur gegen die Regierung, sondern auch gegen die jüngste Putschdrohung der Militärs. „Wir sind gegen die Scharia, aber auch gegen einen Staatsstreich“, sagte Necla Arat, eine der Organisatorinnen des Protestmarsches. Nach dem ersten Präsidentenwahlgang im Parlament am späten Freitagabend hatte der Generalstab erklärt, die Armee schütze den Laizismus und werde notfalls „offen und klar“ Position beziehen.

Die Regierung wies die Drohung zurück. Regierungssprecher Cemil Cicek erinnerte daran, dass die Armee der Regierung unterstellt sei. Erdogan rief Generalstabschef Yasar Büyükanit an und beschwerte sich. Büyükanit habe dem Premier in dem Telefonat versichert, dass man sich nur allgemein auf islamistische Tendenzen im Land bezogen habe und nicht auf die Regierung, berichtete die Presse. Erdogan sei nach dem Telefonat bester Stimmung gewesen.

Es war das erste Mal in der Türkei, das eine Zivilregierung es wagte, die Armee öffentlich in die Schranken zu weisen, wie der regierungsnahe Kolumnist Fehmi Koru lobte. Nach den drei offenen Staatsstreichen 1960, 1971 und 1980 sowie der Intervention 1997, die den damaligen islamischen Premier Erbakan von der Macht drängte, widersprachen die türkischen Politiker der Armee nicht.

Diesmal bekamen die Generäle nicht nur von der Regierung Widerworte, sondern auch von Oppositionspolitikern und den Medien. Von einem „Schlag gegen die Demokratie“ sprach ein Abgeordneter. Der Leitartikler Mehmet Barlas schimpfte, die Generalstabserklärung lese sich wie ein schlechter Zeitungskommentar. Schlimme Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung und den EU-Prozess der Türkei seien zu befürchten.

Trotz der Warnung der Armee und der Großdemonstration will die AKP bei ihrem Kurs bleiben. Er denke nicht daran, seine Kandidatur zurückzuziehen, sagte Gül am Sonntag. Das türkische Verfassungsgericht wird an diesem Montag oder Dienstag über den Einspruch der Opposition gegen den ersten Wahlgang der Präsidentenwahl entscheiden. Gibt das Gericht dem Antrag der Erdogan-Gegner statt, müssten sofort Neuwahlen stattfinden – nach Berechnungen der türkischen Presse wäre das etwa Mitte Juni. Weisen die Richter den Einspruch zurück, wird Gül voraussichtlich am 9. Mai zum Präsidenten gewählt.

Turnusgemäß stehen im November Parlamentswahlen an. Unabhängig von vorgezogenen Neuwahlen wird die Auseinandersetzung zwischen Erdogans konservativ-gläubigem Lager und den laizistischen Eliten auch nach dem Wahltag weitergehen. Laut Umfragen dürfte die AKP aus den Wahlen erneut als stärkste politische Kraft hervorgehen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false