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Politik: Geiseln von Jolo: Wie die Wallerts freikamen

Raum 0.0.

Raum 0.0.55 ist abgeschlossen. Halb geöffnet sind nur die zentnerschweren Metalltüren vor den Fenstern, Relikte jener Zeit, da die Deutsche Reichsbank hier einen Tresor unterhielt. Schräg fällt das fahle Licht eines trüben Herbsttages auf leere Stühle, sauber geräumte Tische. Fernseher, Videorekorder, eine stattliche Telefon-Armada. Sie ist ungenutzt. Nur die Zeiger der neun verschieden eingestellten Uhren an der Stirnwand tun ihren Dienst. Unter der ersten steht "Krise". Seit dem 24. April schlägt sie der Berliner Stunde 360 Minuten voraus: Ortszeit Manila.

Um 6 Uhr 15 meldeten die Nachrichtenagenturen an diesem Ostermontag, dass philippinische "Moslemrebellen" 21 Touristen entführt hätten, darunter die Deutschen Renate und Werner Wallert aus Göttingen mit ihrem Sohn Marc. Um 14 Uhr tagte damals im Raum 0.0.55 des Auswärtigen Amtes zum ersten Mal der Krisenstab. Erst viereinhalb Monate später kommt Marc als Letzter der drei auf dem Flughafen von Hannover an.

Während im Erdgeschoss des mächtigen Gebäudes am Werderschen Markt wieder der Beamte vom Dienst des Lagezentrums das Sagen hat, tut die Regierung der Philippinen, was sie schon lange hatte tun wollen: Sie führt Krieg gegen die Rebellen der Gruppe Abu Sayyaf. Aber die Meldungen von der Insel Jolo fließen nur noch spärlich. Die Journalisten sind abgezogen. Zehntausende Dorfbewohner haben die Flucht ergriffen.

Botschafter Werner Göttelmann, der auf deutscher Seite im Mittelpunkt der Verhandlungen stand, hat den kurzen Urlaub in seinem baskischen Ferienhaus beendet und sich auf den Rückweg nach Manila gemacht. Im "Stern" endet Werner Wallerts "Jolo-Tagebuch" mit den Worten: "Wir haben Glück gehabt." Die Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes prüft, wie teuer dies Glück für die Wallerts war. Nach dem Konsulatsgesetz ist Hilfe für Deutsche, die im Ausland in Not geraten sind, keineswegs immer kostenlos.

Ein James Bond der Politik

Auf Jolo herrscht Krieg, in Deutschland Routine. Aber Frieden hat die Geiselaffäre nicht zurückgelassen. Erbittert wird darüber gestritten, wem die Geiseln es zu verdanken haben, dass sie heute wohlbehaltene Nutznießer ihrer schlimmen Erfahrungen sind, ob sie nicht viel früher hätten frei kommen können. In die Rolle des Anklägers ist Bernd Schmidbauer geschlüpft. Unter Helmut Kohl hat er im Kanzleramt die Geheimdienste koordiniert und sich durch seine Vorliebe für spektakuläre Auftritte den Spitznamen "008" erworben. Ein James Bond der Politik. Er nimmt für sich in Anspruch, jene "Libyan Connection" geknüpft zu haben, die am Ende zur Lösung der Krise geführt hat. Werner Wallert jedenfalls dankt Muammar al Gaddafi, nicht der Bundesregierung. Dem Satz "Die internationale Diplomatie hat versagt" mag er nichts hinzufügen.

Werner Göttelmann fühlt sich nicht als Versager. Eigentlich wollte und sollte der 64-Jährige schon in Köln den Ruhestand genießen. Aber dann kam jener 24. April. "Gott sei Dank", erinnert er sich im Gespräch mit dem Tagesspiegel, habe er gedacht, als er von der Entführung in Malaysia hörte, "nicht mein Land". Doch die Entführten kamen zu ihm, und das Rheinland musste warten. Es war nicht das erste Mal, dass der Diplomat mit Entführungen zu tun hatte. Er war Ende der 80er Jahre Botschafter in Beirut, als dort der Repräsentant der Firme Hoechst gekidnappt wurde. Damals kreuzte auch Bernd Schmidbauer seinen Weg. In komplizierten Verhandlungen hatte Göttelmann den Kaufmann aus der Hand einer libanesischen Miliz freibekommen, doch dann wurde der von Syrern nach Damaskus entführt. Ohnmächtig musste Göttelmann am Fernseher verfolgen, dass sich dort Schmidbauer als der Mann präsentierte, der Cordes zurück nach Deutschland brachte.

In der Kabinettssitzung am 10. Mai sagte Außenminister Joschka Fischer, dass der frühere libysche Botschafter auf den Philippinen, Rajab Assaruk, in der Geiselaffäre "vermittelnd helfen kann". Zuvor hatte er in der Tageszeitung "Die Welt" lesen können: "Schmidbauer bittet Gaddafi um Vermittlung im Geiseldrama". Danach rief Schmidbauer in Tripolis an. Bereits eine Stunde später habe er die Mitteilung bekommen, dass die Internationale Wohltätigkeitsstiftung von Saif al Islam, dem Sohn des Obersten, zur Verfügung stehe. Eine Delegation mit dem früheren Botschafter auf den Philippinen, Rajab Assaruk, stehe bereit. Assaruk reiste einen Tag später über Frankfurt. Es war Donnerstag, der 4. Mai.

An diesem Tag kabelte die deutsche Botschaft in Tripolis an das Auswärtige Amt in Berlin, dass Assaruk in der Tat ein Sofortvisum für die Philippinen beantragt habe. Libyen ist seit 30 Jahren auf den Philippinen engagiert - als Unterstützer von Rebellen, 1996 aber auch als Initiator eines Friedensabkommens mit diesen. Wichtiger Mann dabei: Rajab Assaruk.

Die Regierung in Manila, so erinnert sich Botschafter Göttelmann, habe ihn zunächst geholt, um einen humanitären Kanal zu den Entführten zu öffnen und offen zu halten. Am 6. Mai meldete er nach Berlin, an eine Einschaltung Assaruks als Vermittler denke Manila nicht. Zu Schmidbauers Behauptung, er habe sein Land eingeschaltet, meinte Assaruk am 11. September im "Spiegel": "Das stimmt nicht." Dass er zur Lösung der Krise beigetragen habe, sei "pure Fantasie".

Richtig ist: Schmidbauer hat versucht, etwas dazu beizutragen - in der ihm eigenen Intensität, die ihren Adressaten schon mal auf die Nerven gehen kann. Ludger Volmer, Staatsminister im Auswärtigen Amt, meinte nach Abschluss der Affäre sogar, der CDU-Politiker habe "uns und die Geiseln mindestens einen Monat gekostet". Schmidbauer dagegen hatte behauptet, die Wallerts hätten schon einen Monat lang frei sein können, wenn die Regierung bereit gewesen wäre, ein Lösegeld von 3,2 Millionen Mark zu zahlen, das Assaruk ausgehandelt habe. Botschafter Göttelmann spricht nicht über Geld. Schon gar nicht über Lösegeld. Das tut keiner der Beteiligten. Auch Assaruk nicht. Der hat allerdings von "Projekten" der Gaddafi-Stiftung auf Jolo gesprochen. Wert: zwischen elf und 18 Millionen Dollar. Göttelmann hat bei seinen Verhandlungen vor Ort allerdings keine Wirkung von Schmidbauers "Störmanövern" wahrgenommen, auch nicht von den Aktivitäten des Privatagenten Werner Mauss, der sich auch in dieser Affäre wieder zu Wort gemeldet hat.

Irritationen gab es allerdings. Jedoch eher fern von den Philippinen. Denn entführt waren außer Malaysiern nicht nur deutsche, sondern auch französische und finnische Staatsbürger. Dass deren Regierungen einander immer blind vertrauten, war offenbar keine Selbstverständlichkeit. Als Erstes zeigt Finnland sich schon Mitte Mai besorgt. Mitte Juni muss Staatssekretär Wolfgang Ischinger sein Pendant im französischen Außenministerium beruhigen: Gerüchte über angebliche deutsche Separatverhandlungen bezögen sich ausschließlich auf Aktivitäten, mit denen die Bundesregierung nichts zu tun habe. Auch deutsche Befürchtungen über französische Extratouren finden keine Bestätigung. Unabhängig von den Europäern handeln die Malaysier. Chinesische Kaufleute vermitteln, Lösegeld wird gezahlt.

Diesen Eindruck wollten die drei europäischen Länder vermeiden. Dass sie mit einer Zunge sprechen, war bereits am 7. Mai mit der Visite des Hohen Repräsentanten der gemeinsamen Außenpolitik der EU, Xavier Solana, zum Ausdruck gekommen, dem Kanzler Schröder einen Airbus der Luftwaffe für seinen Flug nach Manila zur Verfügung gestellt hatte. Schröder wird auch mit Präsident Estrada telefonieren.

Mitte Juli sprechen die Außenminister der drei betroffenen Länder auf den Philippinen vor. Ihr Hauptziel: Abwendung von Gewalt. Zwei Mal wäre es beinahe so weit gewesen. Präsident Estrada und seine Armeeführung sehen ihre Autorität durch die Geiselkrise gefährdet. Deshalb ist es auch zentrales Ziel der Europäer, sie in der Verantwortung zu halten. Der Druck, den Fischer und seine Amtskollegen aus Paris und Helsinki entfalteten, ist beträchtlich. Zwei Tage nach ihrer Rückkehr wird Renate Wallert freigelassen. 85 Tage war sie in Gefangenschaft.

Beinahe wäre sie nur halb so lange gewesen. Am 12. Mai meldete Botschafter Göttelmann ans Auswärtige Amt, der Libyer Assaruk habe die Zusicherung der Kidnapper erhalten, Renate Wallert werde freigelassen. Eine verfrühte Hoffnung, wie sich am nächsten Tag herausstellen sollte. Lag es an der Weigerung aus Berlin, Lösegeld zu zahlen? Kein Offizieller nimmt dies Wort in den Mund. Botschafter Göttelmanns Erklärung lautet anders: Die größten Schwierigkeiten bei den Verhandlungen machten seiner Darstellung nach nicht die Entführer.

Das Problem lag bei der philippinischen Regierung. Da gab es zunächst Unterhändler, die ihren Namen überhaupt nicht verdienten. Dann kam der Chefunterhändler Aventajado, ein politisch höchst ambitionierter Mann, der seine Wahl in den Senat betreibt, dem Gelüste auf die Präsidentschaft nachgesagt werden. Er machte öffentlich, was ihm nutzen sollte - keine gute Voraussetzung für diskrete Verhandlungen. Als Politiker ist er jedoch ein Mann, der politischen Druck wahrzunehmen versteht. Den machten die europäischen Außenminister, den machte Botschafter Göttelmann. Wie genau der Druck aussah, unter den er Aventajado setzte, will der Botschafter nicht verraten. Erfolgreich war er offenbar.

Ist Göttelmanns Darstellung richtig, dann hatte mit Renate Wallerts Freilassung im engeren Sinne am Ende jener Mann nichts oder kaum zu tun, der sie beinahe schon einmal freibekommen hätte und dem zuvörderst die Verhandlungsfortschritte insgesamt zu verdanken sind: Assuruk, der Libyer. Wie war es dazu gekommen? Einen Tag, bevor EU-Außenpolitiker Solana in Manila eintraf, gab es einen von mehreren Unterhändlerwechseln auf Seiten der philippinischen Regierung. Präsident Estrada teilt ihm mit, Assaruk soll sich nun speziell um Renate Wallert kümmern. Das ist nicht die von Manila abgelehnte internationale Vermittlung, aber der Libyer ist drin. Einen Tag später äußerte Außenminister Fischer seine Hoffnung. Und am 12. Mai befand der Bundesnachrichtendienst (BND), die libysche Schiene sei der am meisten Erfolg versprechende Ansatz.

Das Problem war: Unter den vielen Optionen, die man in Berlin geprüft hat, ist dies die komplizierteste. Wegen seiner Verwicklung in den internationalen Terrorismus ist Tripolis geächtet. Vor allem bei den USA. Buchstäblich alles hat man bis dahin in Erwägung gezogen. Auch eine Operation wie damals in Entebbe, als Geiseln von der Antiterror-Truppe GSG 9 mit Gewalt befreit worden waren. Ein Vertreter dieser Truppe berät auch den Krisenstab. Die Außenminister der drei Länder haben mit allen in Frage kommenden Vermittlern gesprochen. Am Ende blieb Libyen.

Damit kam eben der BND ins Spiel, einer jener Dienste, für deren Koordination Schmidbauer einst verantwortlich war. Für Diplomaten ist der Kontakt zunächst ziemlich heiß, deshalb übernehmen die Geheimdienstler. Auch sonst ist ihre Einbeziehung nicht unpraktisch. Sie können sich ganz anders bewegen, heißt es, eben "gegenstandsangemessen" geheimnisvoll. BND-Chef August Hanning bewegt sich ganz normal. Mit dem Flugzeug. Am 14. Juni war er zum ersten Mal in Tripolis und bat offiziell um Unterstützung. Nach der Klarstellung, dass Schmidbauer nicht im Auftrag der Bundesregierung handele, habe Libyen auch zugesagt, dass dieser nicht in libysche Bemühungen einbezogen werde, notiert man beim Dienst über diesen Besuch. Zehn Tage später ist Hanning noch einmal da und bekommt eine allgemeine Unterstützungszusage. Was das heißt? Darüber wird in Berliner Regierungskreisen geschwiegen. Die BND-Kontakte verlagern sich nach Wien. Hanning fährt zum libyschen "Volksbüro". Dort telefoniert er Anfang August zwei Mal mit Libyern in Wien. Am 10. und 11. August schickt er Mitarbeiter, um organisatorische und technische Details zu klären. Am 29. fliegt er wieder nach Tripolis, wo er neben dem Chef des Nachrichtendienstes auch den inzwischen freigekommenen Werner Wallert trifft. Am 8. September wird bei der libyschen Botschaft in Bonn ein Einreisevisum für den Deutschen beantragt. Tags drauf wird auch Marc Wallert freigelassen. Wie hoch ist der politische Preis für die Vermittlung, außer, dass Joschka Fischer wirklich nach Tripolis fliegt? Berlin will sich in der EU im Rahmen des Mittelmeer-Dialogs für Libyen verwenden, heißt es. Und weiter? Schweigen.

Die Krisen-Uhr im Raum 0.0.55 zeigt weiter die philippinische Zeit. Der Ring der Armee schließt sich immer enger um Abu Sayyaf Aber die Rebellen halten noch immer Geiseln gefangen.

Thomas Kröter

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