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Politik: Gerhard Schröder hat Tritt gefasst. Doch die Möglichkeit für einen politischen Wechsel ist verspielt (Kommentar)

1999 schien das Ende von Rot-Grün nur noch eine Frage von Monaten zu sein. Dann die Zeitenwende: Die CDU steckt im Skandalsumpf.

1999 schien das Ende von Rot-Grün nur noch eine Frage von Monaten zu sein. Dann die Zeitenwende: Die CDU steckt im Skandalsumpf. Und der rot-grünen Chaostruppe scheint alles zu glücken. Fast alles. Deshalb die Frage: Was kann die Regierung jetzt tun, was soll sie tun?

Rot-Grün hat Tritt gefasst, heißt es. Zwar schwimmt der Kanzler nicht auf einer Welle der Sympathie, doch will ihm jedenfalls einiges gelingen. Hilfreich für Schröder, dass ihm die Opposition praktisch abhanden gekommen ist; auch, dass seine Regierung praktisch ohne journalistische Beobachtung arbeitet (alles schaut auf die CDU). Seit dem Holzmann-Coup - ein paar Puristen der freien Marktwirtschaften mögen genörgelt haben - läuft es gut für Schröder. Das Herz seiner Partei gewann er, durch Glück und auch durch Voraussicht, beim Berliner SPD-Konvent im Dezember. Und die Gespräche im "Bündnis für Arbeit" kommen voran.

Auf den Neokorporatismus dieser Kanzlerrunde samt angeschlossener Verbands- und Interessensorganisationen hat sich Rot-Grün - eine Konstellation, die vordem noch mit dem Attribut "Projekt" belegt war - freilich reduziert. Teils aus guten, jedenfalls aus naheliegenden Gründen. Dieses neokorporatistische Moderieren ist es, was Schröder, der "Manager des Politischen" (Eigendefinition) am besten kann, schenkt man intimen Kennern der Materie Glauben. Doch die Verschlankung des rot-grünen Aufbruchs zur technokratischen Politadministratorendoktrin wird von den persönlichen Neigungen und Talenten des Kabinettsvorstehers nur begünstigt. Die Ursachen liegen tiefer.

Dass der Staat - die demokratisch gewählten politischen Akteure - am besten in das freie Spiel der Märkte und in die Binnenlogik der gesellschaftlichen Subsysteme nicht entschieden eingreifen, ist längst zum Kanon der Politik geworden. Dies wird nicht nur durch den Druck der Lobbies und Pressure-Groups und vom täglichen Getrommle der Kommentatoren gestützt, sondern auch von der modernen Politologie.

"Mit der Bestimmung des Staates als (nur noch) Moderator zwischen mächtigen gesellschaftlichen Interessen passt sich die Wissenschaft gängigen Argumenten der normativen Kraft des Faktischen an", beschrieb die Sozialwissenschaftler Josef Esser diesen Mechanismus kürzlich. "Und den Regierungen liefert man den bequemen wissenschaftlich abgesegneten Vorwand, auf politische Führerschaft prinzipiell zu verzichten und demokratisch nicht legitimierten subpolitischen Akteuren das technokratisch zu managende Feld zu überlassen."

Wir wollen nicht beckmessern: Allemal ist es besser, die Repräsentanten der Oberklassen und ihre Verbände an den Tisch zu holen und einen Interessensaustausch zu organisieren, als sich noch ein paar Jahre die nichtsnutzigen Drohungen von Henkel und Co. anzuhören, die Wirtschaft werde bald auswandern etc. Zudem hat sich der "Neokorporatismus" als so neu bislang nicht erwiesen. Denn dass eine Regierung, beispielsweise, bevor sie eine Detailreform des Rentensystems verabschiedet, die Expertisen der von dieser betroffenen "organisierten Interessen" einholt, das gab es immer schon.

Ohnehin kommt dieser Art moderierenden Schröderismus das Paradox zupass, dass es sich auf die neuesten Theorien der "Governance" (ein Begriff, mit dem die angelsächsische Schule das moderne Regieren vom klassischen Begriff des "big government" unterscheidet) ebenso stützen kann wie auf älteste bewährte deutsche Traditionen - nicht erst seit der "Konzertierten Aktion" der sechziger Jahre, im Grunde seit Walter Rathenaus Kriegskapitalismus des Weltkriegs I. gehört diese Art des Wirtschaftsregierens zu den gepflegten deutschen Eigenarten.

Bloß ist dieser Oldie heute, im Zeitalter der globalen liberalen Marktökonomie, sozusagen der letzte Schrei. Das Moderieren auseinanderdriftender Partikularinteressen ist das letzte, was der Politik geblieben ist, ein nebelhafter Schatten der alten "makroökonomischen Globalsteuerung".

Das "Bündnis für Arbeit" ist darum tatsächlich das eigentliche Kernprojekt dieser Regierung, und jede Chance für ambitioniertere Politik hat sie wohl verspielt - da ändert der neue Sonnenschein, den die Demoskopen orten, wenig. Die Gelegenheit zu einer ganz neuen Politik, zu politischer Führung - und damit auch zu Zumutungen im Sinne neuer Orientierungen - hat sie nicht mehr.

Das ist schade. Denn das "Fenster der Möglichkeiten" für eine andere Politik öffnet sich in einer auf Sicherheit und Ausgleich bedachten Gesellschaft wie der Bundesrepublik nicht alle Tage. Der Wahlsieg 1998 - der die politischen Akteure ebenso überraschte wie die Wähler selbst - hätte ambitionierte Reformen möglich gemacht; entschiedenes und planvolles Vorgehen freilich vorausgesetzt. Das Fenster ist jetzt zu. Es wird so schnell nicht wieder aufgehen.Aus der Serie "Zeit zum Regieren" (2)

Der Autor leitet die Auslandsredaktion des Wiener Nachrichtenmagazins "Format".

Robert Misik

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