zum Hauptinhalt
Alles hört auf sein Kommando. Staatschef Erdogan versucht, seine Gegner zu demütigen und auszugrenzen.

© Ammar Awad/Reuters

Gespaltene Türkei: Erdogans neue Staatsräson ist Hass

Präsident Erdogan lässt den Staatsapparat säubern: Nach dem gescheiterten Putsch werden Abertausende festgenommen oder entlassen, jede Kritik wird zum Landesverrat.

Nun also der 15. Juli. In der langen Tradition der Staatsstreiche in ihrem Land haben die Türken es sich angewöhnt, die jeweiligen Umstürze nach deren jeweiligem Tagesdatum zu benennen. Der Begriff des „12. September“ etwa steht für den Putsch von 1980, der „28. Februar“ für die gewaltlose Intervention, mit der 1997 der islamistische Premier Necmettin Erbakan von den Generälen entmachtet wurde. Die Ereignisse vom vergangenen Freitag reihen sich nicht nur sprachlich als weitere Zäsur in diese historischen Wegmarken ein – der Putschversuch wird zum neuen Einschnitt für die ganze türkische Gesellschaft. Mit unabsehbaren Folgen.

In den vergangenen Tagen sind rund 50.000 Menschen festgenommen, entlassen oder vom Dienst suspendiert worden, am Mittwochabend wurde der Ausnahmezustand verhängt. Die Massenverhaftungen und -entlassungen verändern das Gefüge staatlicher Institutionen und beschleunigen einen Elitenwechsel, der schon vor Jahren begann, nun aber einen neuen Fokus erhält: Unbedingte Loyalität zu Präsident Recep Tayyip Erdogan und zur Regierungspartei AKP wird zur Karrierevoraussetzung für Beamte und Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes. Umgekehrt markiert der 15. Juli für viele zehntausend Türken das Ende ihrer Laufbahn und den Beginn einer sozialen Ächtung als angebliche Putschhelfer und Gefolgsleute des Predigers Fethullah Gülen, der von Erdogan als Drahtzieher des Putsches gesehen wird.

Nur die wenigsten dieser ganz privaten Katastrophen werden der Öffentlichkeit bekannt. Süleyman Büyükberber, Rektor der Gazi-Universität in Ankara, wurde auf dem Campus seiner Hochschule in Handschellen abgeführt. Necmi Akman, Landrat im westtürkischen Manisa und Vater von drei Kindern, entriss nach seiner Entlassung unter dem Verdacht der Nähe zu Gülen einem Wachmann vor seinem Wohnhaus die Pistole und schoss sich in den Kopf. Über Jahrzehnte werden die Folgen des 15. Juli zu spüren sein.

Auf seiner Linie

Mehr als 2700 Richter wurden nach Behördenangaben vom Dienst suspendiert, 8000 Polizisten verloren ihren Job. Im Bildungswesen wurde 21.000 Lehrern an Privatschulen die Zulassung entzogen, 15.200 Mitarbeiter des Bildungsministeriums mussten gehen. Auch die Universitäten werden „gesäubert“ – die junge Generation in der Türkei dürfte überwiegend von Lehrern und Professoren unterrichtet werden, die auf ihre Linientreue hin überprüft worden sind und die wissen, dass jede Kritik an der Regierung den Rausschmiss oder Schlimmeres nach sich ziehen könnte.

Der Hochschulrat verbot alle Dienstreisen von Dozenten und Professoren ins Ausland – so soll verhindert werden, dass sich mutmaßliche Putsch-Unterstützer absetzen. Alle Hochschulen müssen ihr Lehrpersonal – auch ausländische Kräfte – auf etwaige Verbindungen zu Gülen hin überprüfen. Wie lange die Maßnahmen in Kraft bleiben, ist unklar. Sicher ist aber jetzt schon, dass sie für das Land ein Fenster zur Welt schließen: Welcher westliche Dozent wird noch Lust verspüren, einen Lehrauftrag in der Türkei anzunehmen?

Hinzu kommt: Bei nächtlichen Kundgebungen, die als „Demokratie-Wachen“ verklärt werden, entlädt sich die Wut der Erdogan-Anhänger auf tatsächliche oder angebliche Gegner der AKP. Auf Transparenten am zentralen Taksim-Platz von Istanbul wird allen Gülen-Gefolgsleuten angedroht, sie würden „wie Hunde“ aufgehängt. „So fangen Völkermorde an“, schreibt ein geschockter Anhänger des Predigers auf Twitter. Sogar über den Tod hinaus sollen die Erdogan-Gegner gedemütigt und ausgegrenzt werden. Das staatliche Religionsamt will getöteten Putsch-Anhängern die religiösen Beisetzungsriten verweigern. Der Istanbuler Bürgermeister Kadir Topbas fordert die Einrichtung von „Verräter-Friedhöfen“, auf denen Gülen-Gefolgsleute verscharrt werden sollen. „Jeder, der vorbeikommt, soll sie verfluchen.“

Kein versöhnliches Wort

Die Polarisierung der Gesellschaft in Erdogan-Anhänger und -Gegner, vom Präsidenten in den vergangenen Jahren als Wahlkampfmittel zur Motivation der AKP-Basis eingesetzt, wird nach dem Putschversuch zur Staatsräson. Statt das Land nach dem Albtraum des vergangenen Wochenendes zusammenzuführen, sei Erdogan auf Rachefeldzug, schreibt der regierungskritische Journalist Levent Gültekin. „Ihr habt das Land in ‚Wir‘ und ‚Sie‘ gespalten“, kritisierte Gültekin an den Präsidenten und die AKP gerichtet. Erdogan komme auch jetzt kein versöhnliches Wort über die Lippen.

Beobachter wie Gültekin, die auf Widersprüche und Ungereimtheiten im Verhalten der Regierung hinweisen, sind selten, aber es gibt sie noch. Und sie stellen Fragen. Der jetzt als Putschist bezeichnete Gülen gehörte lange zu den wichtigsten Unterstützern Erdogans, doch seit drei Jahren beklagt der Präsident eine Unterwanderung des Staates durch die Gülen-Leute – wie kann es sein, dass die Regierung in dieser Lage eine Verschwörung mit angeblich mehreren zehntausend Teilnehmern so lange übersieht, bis die Panzer auf den Straßen rollen? Wie kann die Regierung von der Beachtung rechtsstaatlicher Regeln sprechen, wenn über Nacht tausende Beamte gefeuert werden? Der Journalist Yavuz Baydar beklagt in der Zeitung „Özgür Düsünce“ eine Selbstzensur der Medien und eine „Betäubung“ der Öffentlichkeit.

Weil Gülen lange ein so wichtiger Unterstützer von Erdogan war, bringt die Vergeltungswelle etliche Türken plötzlich in Schwierigkeiten. Im zentralanatolischen Yozgat fand die Polizei mehrere Kartons mit hunderten Büchern Gülens, die von ihren Besitzern an einem abgelegenen Brunnen abgestellt worden waren.

Entsetzen über Putsch-Truppen

Ein Grund dafür, dass Erdogan seine Anhänger Nacht für Nacht auf der Straße halten kann, ist das landesweite Entsetzen der Türken über die Brutalität der Putsch-Truppen vom vergangenen Freitag. Dass Soldaten der bisher hoch angesehenen Armee auf einfache Bürger schießen, Demonstranten mit Panzern überrollen und mit Kampfflugzeugen angreifen, hat alle Türken geschockt und zutiefst verstört. Im Internet wird ein Video, das den Angriff von Jets auf eine Gruppe von Demonstranten in der Nähe des Präsidentenpalastes in Ankara zeigt, als Beweis dieser Rücksichtslosigkeit verbreitet.

In dieser Atmosphäre wird jede Art von Kritik an der Regierung zu einem Fall von Landesverrat. Mehrere Fernsehsender verloren ihre Sendelizenzen, weil sie angeblich der Gülen-Bewegung nahestehen. Am Mittwoch stoppten die Behörden die Auslieferung der neuesten Ausgabe des Satire-Magazins „LeMan“: Eine Karikatur auf der Titelseite des Heftes stellt den Putsch als menschenverachtendes Schachspiel zwischen Erdogan und seinen Gegnern dar.

„Der Versuch der AKP zur Schaffung einer mit religiösen Motiven unterfütterten Volksbewegung unter Beteiligung der Moscheen ist so gefährlich wie der Putsch selbst“, bilanzierte der säkularistische Politiker und Ex-Staatsanwalt Ilhan Cihaner in der Zeitung „BirGün“. Doch wenige Tage nach dem Umsturzversuch weist vieles darauf hin, dass das, was Cihaner als Gefahr empfindet, zum neuen Normalzustand in der Türkei werden könnte.

Zur Startseite