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Politik: Gewalt in Nahost: Krieg der Kinder

In Gaza, vor zwei Jahren. Das Auto hält auf einem kleinen, von Müllhaufen umgebenen Platz.

In Gaza, vor zwei Jahren. Das Auto hält auf einem kleinen, von Müllhaufen umgebenen Platz. Kinder, Erst- bis Drittklässler, kommen herbeigelaufen, drängen sich an den Wagen, fragen den palästinensischen Fahrer nach seinen Passagieren: "Jahud?" (Jude?), warten nicht einmal die Antwort "Journalis- ten" ab, sondern beginnen mit einem Trommelfeuer von Steinen. Es bleibt nur Flucht. Nur wenige Wochen später: Am gleichen Ort, im gleichen Auto, der gleiche Fahrer, die gleichen Journalisten und die gleichen Kinder. Diesmal lautet ihre Frage: "Israeli?" Der Fahrer wagt ein zögerndes "Ja" - "Schalom, schalom", tönte es im Sprechchor zurück, jubelnd stieben die Kleinen auseinander. Erstaunen im Auto, vor allem beim mitfahrenden israelischen Kameramann, Major der Reserve: "Die haben es geschafft, in weniger als 24 Stunden den Befehl zur totalen Wende von ganz oben bis zu diesen Knirpsen herunter zu leiten."

Immer wieder sieht man im Fernsehen diese Bilder: Kinder und Jugendliche werfen Steine, manchmal sogar Sprengsätze. Auch Mohammed al Duri hat Steine geworfen, dann wurde der 12-Jährige getötet durch Schüsse israelischer Soldaten. Er starb am Sonntag in den Armen seines Vaters. Doch Mohammed ist nur einer von tausenden, ja zehntausenden palästinensischen Kinder und Jugendlichen, die in erster Reihe gegen die israelischen Soldaten einen ungleichen Krieg austragen: Frontkämpfer mit Steinen. Während die älteren schnell einmal zu Molotow-Cocktails übergehen oder bei dieser "Al Akza-Intifada" von Schusswaffen Gebrauch machen, bleiben den Kinderkriegern nur die Steine und Steinschleudern, mit denen sie gegen die mit Tränengas, "Gummigeschossen" (mit Hartgummi überzogenen Stahlkugeln) sowie scharfer Munition schießenden und seit neuestem auch Panzerabwehrraketen und Kampfhubschrauber einsetzenden Israelis chancenlos ankämpfen.

Mohammed und seinesgleichen sind aber nicht allein. Auch die israelische Gegenseite scheut sich nicht, Kinder für ihren Kampf einzusetzen, sie zu missbrauchen. Die jüdischen Siedler-Extremisten vertrauen zynisch darauf, dass bei ihren aggressiven Demonstrationen bei der israelischen Polizei das Mitleid mit den Kleinen vorherrscht. Noch sind die Kinder-Einsätze der Siedler von anderer Qualität als diejenigen der Palästinenser. Doch wenn es einmal zu Siedlungsräumungen kommen wird, werden die Siedler-Kinder an die Front geschickt werden.

Die Palästinenser (im Gazastreifen) und die Siedler (sofern sie ultrareligiös sind) bilden die kinderreichsten Gruppierungen weltweit: Die ultrareligiöse jüdische Frau in Israel hat mit durchschnittlich 7,4 Kindern die knapp über siebenfache palästinensische Mutter überholt. Doch die Mütter sorgen sich nicht weniger als andere Mütter um das Leben ihrer Kinder, nur sind die Palästinenserinnen meist nicht in der Lage, alle zu beaufsichtigen - genau wie im Falle von Mohammed al Duri.

Diese jugendlichen Steinewerfer sind in ihrer Mehrheit keineswegs ein zufällig zusammengerotteter Haufen. In den kürzlich zu Ende gegangenen Sommerferien organisierten verschiedene politische Gruppierungen in den palästinensischen Gebieten militärische Ausbildungslager für Kinder: Nahkampf, Schießen, Kampfbahn. Zwar kann ein Zwölf- bis Sechzehnjähriger das erworbene Wissen im realen Kampf gegen die Israelis (noch) nicht umsetzen, weil er keine Schusswaffe hat, doch niemand kann und will ihn davon abhalten, mit den etwas Älteren in den Kampf zu ziehen.

In Ramallah wird am Mittwochmorgen, wie noch nach jedem Kampftag und den nächtlichen Gefechten, das "Schlachtfeld" aufgeräumt - ein bizarres Schauspiel, so als ob man sich nur auf einem peinlich gesäuberten Platz bekämpfen könnte. Am Rande steht einer der Rädelsführer, Nasser, ein schnauzbärtiger Endzwanziger, der lautstark Arafat auffordert, sofort hierhin zu kommen, anstatt mit Barak in Paris zu verhandeln: Es werde ein Befehle erteilender Kommandant vor Ort gebraucht, nicht ein mit dem Feind sprechender Diplomat. Frage: "Würden sie einen Zwölfjährigen, der hier auftaucht, heimschicken?" - Nasser: "Nein, mit zwölf ist man ein Mann und kann für sein Land kämpfen".

Diesmal sind es erstmals die "Tanzim"-Truppen, die den Kampf anführen und bestimmen: Die paramilitärischen Einheiten der politisch führenden Fatah-Bewegung von Jassir Arafat war bisher weitgehend so unbekannt, dass auf israelischer Seite tagelang über ihren Namen gerätselt wurde. In ihr sind die etwas älteren Jugendlichen, Studenten und Gleichaltrige zusammengefasst - allesamt kennen sie die "große" Intifadazeit meist nur vom Hörensagen oder aber haben sie als kleine Kinder miterlebt.

Zum großen Rätselraten, ob "Tanzim" nur auf die Befehle der beiden Kommandanten und Fatah-Bosse Bassam al-Sheikh und Marwan Barghouthi hört, ob also Arafat die Kontrolle über seine Frontkämpfer verloren hat oder ob er bisher entgegen seinen Versprechungen den Befehl zur Einstellung der Kampfeshandlungen nicht erteilt hat, diente Bassam al-Sheikh jetzt die eindeutige Antwort an: "Arafat ist unser oberster Kommandant", weshalb die "Tanzim" nur aktiv werde gemäß seinen Befehlen, "wir gehen keinen Zentimeter ohne seine Bewilligung".

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