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Gewaltspirale: Politisches Vakuum im Irak

Woche für Woche erschüttern Mordüberfälle und Bombenanschläge den Irak. Bei Bagdad kämpft eine sunnitische Miliz gegen den Terror – jetzt wurde sie selbst Ziel von Al Qaida.

85 Milizionäre der sunnitischen Erweckungsbewegung hatten sich gerade in drei Reihen vor dem Kasernentor aufgestellt, um ihr 100-Dollar-Gehalt für Juli in Empfang zu nehmen, als sich zwei geistig Behinderte unter die Menge mischten. Dann explodierten die Sprengstoffgürtel der beiden Männer mit Down-Syndrom. Ob sie ihre Sprengstoffgürtel selbst zur Explosion gebracht hatten oder ob die Sprengsätze mit einem Fernzünder ausgelöst wurden, war zunächst unklar. Durch die Explosion wurden 36 Menschen getötet. Diesmal traf es sunnitische Stammeskämpfer im Städtchen Radwaniyah, 25 Kilometer westlich von Bagdad, die seit drei Jahren zusammen mit der Armee gegen das Terrornetzwerk Al Qaida vorgehen. Eine Woche zuvor waren 70 schiitische Pilger gestorben, die eines ihrer lokalen Heiligen gedachten. Knapp 500 Menschen wurden verwundet.

Der Irak kommt nicht zur Ruhe. Woche für Woche erschüttern Mordüberfälle und Bombenanschläge das geplagte Land, dessen politische Klasse sich total festgefahren hat. Seit der Wahl am 7. März trat das Parlament nur ein einziges Mal für 20 Minuten zusammen, um den Eid auf die Verfassung abzulegen. Selbst auf die Wahl eines neuen Parlamentspräsidenten und Staatspräsidenten konnten sich die Lager nicht einigen.

Dieses wachsende machtpolitische Vakuum versucht Al Qaida zu nutzen, um neuen Hass und Zwietracht zu säen. „Die Attentate, die sich gezielt gegen religiöse und ethnische Gruppen richten, gehen völlig ungehindert weiter“, warnten die Vereinten Nationen in ihrer jüngsten Bilanz. Nach UN-Angaben wurden allein im letzten Jahr 4068 Zivilisten getötet und 15 935 verletzt. Zwar sei die Zahl der Opfer im Vergleich zu 2008 gesunken, heißt es in dem Bericht, aber „in der zweiten Hälfte des Jahres 2009 gab es einen starken Anstieg bei den Verletzten“.

Politische Hauptrivalen sind Ex-Premier Iyad Allawi und der bisherige Regierungschef Nuri al Maliki. Allawi lag am 7. März mit seiner überkonfessionellen „Irakischen Nationalbewegung Iraqiya“ bei Stimmen und Mandaten knapp vorne und beansprucht den Auftrag zur Regierungsbildung. Maliki aber will seinen Platz nicht räumen. Inzwischen zimmerte er mit den religiösen Schiiten, von deren „Irakischer Nationalallianz“ er sich vor den Wahlen demonstrativ getrennt hatte, eine neue Kombi-Fraktion. Doch der fehlen vier Stimmen zur Mehrheit. Schiitische Kritiker werfen Maliki zudem vor, selbstherrlich zu agieren und alle wichtigen Posten mit Getreuen besetzt zu haben. Gegenspieler Iyad Allawi wiederum warnte davor, wenn seine sunnitischen Wähler in einer neuen Regierung nicht angemessen repräsentiert seien, könne das – wie nach der ersten Wahl 2005 – in einem neuerlichen Bürgerkrieg enden.

Um diese Brisanz weiß auch das Weiße Haus, das seinen angekündigten Truppenrückzug möglichst ohne Zwischenfälle über die Bühne bekommen möchte. Seit dem Wahltag sind bereits 25 000 Mann zurückverlegt worden, bis Ende August sollen weitere 25 000 folgen. Die restlichen 50 000 rücken bis Ende 2011 ab. Drei Tage lang versuchte kürzlich der amerikanische Vizepräsident Joe Biden vor Ort, die beiden irakischen Streithähne zum Einlenken zu bewegen – vergeblich. Denn der amerikanische Einfluss schwindet. Und so scheint es inzwischen denkbar, dass der Irak auch am Jahresende noch keine neue Regierung hat.

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