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Das aktive Vergessenwerden kann einen Spagat zwischen Datenschutz und Informationsfreiheit

© dpa

Google-Urteil: Die Gefahren des "digitalen Radiergummis"

Das Recht auf Vergessenwerden, das der Europäische Gerichtshof gegen Google durchgedrückt hat, wurde allseits beklatscht. Doch bedeutet das Urteil, dass nun jeder die Fotos vom letzten Weihnachtsessen tilgen kann? Am Ende könnte Google lachender Gewinner bleiben.

So viel Lob für eine europapolitische Entscheidung war selten. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für ein Recht auf Vergessenwerden wurde in dieser Woche nahezu überschwänglich aufgenommen. Mehr Privatsphäre im Internet, jubelten Datenschützer. Ein Tritt in die Google’sche Magengegend, freute sich die Presse. „Beste Werbung für Europa“, befand die Süddeutsche Zeitung.

Keine Frage: Das Urteil ist ein großes Glück für die Bürgerrechte in der EU; die Richter haben ihre datenschutzfreundliche Tradition, die sie mit dem wegweisenden Urteil gegen die Vorratsspeicherung begründeten, konsequent weiterverfolgt. Erstmals muss sich auch Google europäischem Recht beugen.

Andererseits ist das Urteil auch so vage wie wenige netzpolitische Entscheidungen zuvor. Augenscheinlich hat das Gericht mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet.

Ab wann etwa darf ein EU-Bürger eigentlich seine Daten löschen lassen? Nur, wenn seine Zwangsversteigerung bereits 16 Jahre her ist – wie im Fall des spanischen Klägers? Oder auch dann, wenn ihm ein nachweihnachtliches Foto nicht mehr gefällt, weil er inzwischen zwölf Kilo abgenommen hat? Wird Christian Wulff irgendwann einmal Medienberichte, die sich nach seinem Freispruch als teilweise einseitig herausgestellt haben, aus seinen Suchtreffern tilgen können? Wann ist die Rufschädigung groß genug, wann genug Zeit vergangen, dass ein Vergessenwerden legitim ist? Wann hat die Privatsphäre Vorrang, wann das öffentliche Interesse an einem Sachverhalt? Die Piraten haben zurecht darauf aufmerksam gemacht, dass hier zwei Werte aufeinander prallen: Datenschutz und Informationsfreiheit.

Recht auf Vergessenwerden darf sich nicht nur gegen Google richten

Dem Hightech-Verband Bitkom zufolge führt das Urteil sogar zu noch mehr Rechtsunsicherheit. Der Europäische Gerichtshof schränke mit seinem Urteil die „grundlegenden Prinzipien eines freiheitlichen Internet“ ein, hieß es in einer Pressemitteilung.

Schließlich muss auch über die Bürokratie, die diese Entscheidung für Suchmaschinenbetreiber und Aggregatoren bedeutet, gesprochen werden. Was, wenn Bürger jetzt massenhaft Löschanträge stellen? Während Google bestimmt bald eine Entfernungsautomatik – beispielsweise über ein Webprotokoll – ersinnt, könnten kleinere Wettbewerber möglicherweise in Bedrängnis kommen. So war das schon beim Leistungsschutzrecht, das Verleger durchdrückten, um Google Geld für das Anzeigen von Textausschnitten abzupressen: Der Schuss ging vor den Bug – Google holte sich von allen Verlagen die Einwilligung, die Suchergebnisse kostenlos listen zu lassen. Einen ähnlichen Verwaltungsaufwand konnte der Ein-Mann-Social-Media-Aggregator Rivva damals nicht leisten. Der Betreiber löschte stattdessen 650 Presseerzeugnisse aus dem Angebot. Es ist nicht ausgeschlossen, dass mit einem Löschanspruch Ähnliches passieren könnte: Google wird in der Folge noch stärker, weil seine Konkurrenten durch das Urteil aus dem Feld geräumt wurden.

Wenn der "digitale Radiergummi" zum Alltag wird, droht bald ein zensiertes Netz

Außerdem ist ungeklärt, gegen wen sich ein Recht auf Vergessen sonst noch richtet. Nur gegen Suchmaschinen? Oder sollte man den „digitalen Radiergummi“ nicht auch gegen Webseiten von Firmen oder öffentlichen Institutionen anwenden dürfen? Was ist mit Facebook und anderen sozialen Netzwerken? Dort wird dem einzelnen Nutzer auf seiner Profilseite zwar die Kontrolle über seine Daten suggeriert. Hoffnungslos wird es aber, wenn der Einzelne sich Gerüchten oder Mobbingkampagnen ausgesetzt sieht. Wie soll ein Opfer derartige digitale Spuren löschen können? Die Informationen liegen ja auf den Profilseiten anderer Nutzer.

Das Internet ist nicht nur Google. Wenn das Recht auf Vergessenwerden nicht nur zu einer Fußnote im Wettstreit mit einer allmächtigen Suchmaschine werden soll, braucht es daher jetzt Datenschützer und Gerichte, die diesen Anspruch zugleich sorgfältig abwägen und auch auf anderen Feldern bejahen. Noch wichtiger ist aber, dass auch die Bürger jetzt selbst auf dieses Recht pochen. Sonst würde sich das Recht auf Vergessenwerden als Farce entpuppen – und womöglich selbst in Vergessenheit geraten.

Petra Sorge ist Online-Redakteurin bei Cicero. Ihren Kommentar veröffentlichen wir in Kooperation mit Cicero Online.

Petra Sorge

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