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Politik: Grenzen und Schmerzgrenzen

Wien will Alternativen zu einer EU-Vollmitgliedschaft der Türkei – Ankara ist alarmiert

Der große Tag naht, doch die Stimmung ist so miserabel wie nie zuvor. Mit wachsender Verärgerung beobachtet die Türkei die EU-internen Beratungen und Manöver vor den Beitrittsverhandlungen, die am 3. Oktober beginnen sollen. Misstrauen herrscht nicht nur bei der Regierung in Ankara, sondern auch bei den Normalbürgern auf der Straße. Der Istanbuler Student Emre Sakalli spricht aus, was viele denken: „Die Europäer wollen uns doch nur nach ihrer Pfeife tanzen lassen“, sagt er. Der Schüler Kaya Öndül pflichtet ihm bei: „In Wirklichkeit wollen uns die Europäer ja gar nicht aufnehmen, sie spielen nur mit uns.“ Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Türkei die Beitrittsverhandlungen noch platzen lässt.

Völlig unterschiedlich sind die Blickwinkel in Brüssel und am Bosporus. Beim jüngsten Streit über die Weigerung der Türkei, das EU-Mitglied Zypern vollständig anzuerkennen, herrscht auf Seiten der EU vielfach Fassungslosigkeit: Wie kann sich die Türkei um Aufnahme in einen Club bewerben, ohne alle Mitglieder dieses Clubs anzuerkennen? Ankara dagegen wirft der EU vor, die griechischen Zyprer, die im vergangenen Jahr die Wiedervereinigung der Insel verhinderten, jetzt auch noch mit Druck auf die Türkei zu belohnen.

Entsprechend scharf fielen die türkischen Reaktionen auf die jüngste EU-Erklärung aus, in der Ankara aufgefordert wurde, Zypern im Laufe des Beitrittsprozesses anzuerkennen. Ungerecht, unfair und schädlich für die Friedensbemühungen der Vereinten Nationen sei die Stellungnahme aus Brüssel, kritisierte die Regierung in Ankara. Nikosia habe die ganze EU als „Geisel“ genommen, schimpfte Außenminister Abdullah Gül.

Bei aller Kritik an der EU-Erklärung machte Gül aber auch deutlich, dass der Zypern-Text allein für die Türkei kein Grund ist, die Beitrittsverhandlungen abzublasen. Wesentlich wichtiger sei der Verhandlungsrahmen für die Beitrittsgespräche, um den noch gerungen wird.

Dabei sorgt unter anderem Österreich mit seiner Forderung nach einer privilegierten Partnerschaft statt der Vollmitgliedschaft für Unruhe in der Türkei. Bei einem Treffen der 25 EU-Botschafter in Brüssel hatte sich die österreichische Delegation am Dienstag neuerlich darauf festgelegt, dass vor Beginn der Beitrittsverhandlungen eine Alternative zu einem Vollbeitritt der Türkei festgeschrieben werden muss. Als einziges EU-Land fordert das konservativ regierte Österreich eine derartige schriftliche Garantieerklärung, dass man der Türkei auch noch in 15 Jahren die Tür vor der Nase zuschlagen kann. Ankara hatte freilich immer wieder betont, dass es in diesem Fall gar nicht an Verhandlungen interessiert ist. Diese Drohgebärde schreckt die Österreicher offensichtlich nicht ab. Die Wiener Außenministerin Ursula Plassnik, eine enge Vertraute von Kanzler Wolfgang Schüssel, hatte bereits festgestellt, dass es in dieser Frage „24 gegen 1“ innerhalb der EU steht.

Im Brüsseler Ministerrat und bei der britischen EU-Präsidentschaft wird Österreichs Oppositionsrolle gegen den Beginn der Beitrittsverhandlungen ohne eine festgeschriebene Alternative zum Vollbeitritt nicht wirklich ernst genommen. Und auch EU-Kommissionschef José Manuel Barroso hatte bereits im August erklären lassen, dass die Türkei alle Bedingungen für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen erfüllt habe.

In Österreich wiederum zweifelt niemand daran, dass Schüssel notfalls tatsächlich den Verhandlungsbeginn mit der Türkei platzen lassen könnte, auch um den Preis einer vollständigen Konfusion in der EU und einer enormen Krise mit der Türkei. Schüssels Haltung lässt sich auch damit erklären, dass seine ÖVP am 2. Oktober wieder die Landtagswahlen in der Steiermark gewinnen möchte, dem drittgrößten österreichischen Bundesland. Seit 1945 regiert die ÖVP in der Steiermark mit fast absolutistischer Macht. Nach jüngsten Umfragen könnte aber diesmal die oppositionelle SPÖ an die Macht kommen. Skurrilerweise kommt Schüssel da die Türkei-Frage gerade recht: Die Österreicher sind mehrheitlich gegen einen EU-Beitritt der Türkei und sehr euroskeptisch. Ein starker Kanzler, der der Türkei die Tür vor der Nase zuschmeißt, so das ÖVP-Kalkül, käme da zu Hause sehr gut an.

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