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Syrische Flüchtlinge überqueren die Grenze in die Türkei.

© dpa

Grenzkonflikt mit Syrien: Türkei: Europa soll Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen

Die Zahl der Flüchtlinge aus Syrien hat die Marke von 100.000 überschritten und könnte in kürzester Zeit weiter drastisch steigen. Die UN geht derweil von mehr als 30.000 Todesopfern in Syrien aus. Die Lage wird immer prekärer.

Die türkische Reaktion auf den syrischen Granatbeschuss der vergangenen Wochen hat die größte Militäraktion des Landes seit mehr als 20 Jahren ausgelöst. Anders als im Jahr 1991, als sich die Türkei vor Folgen des ersten Irak-Krieges schützen wollte, gehe es diesmal nicht nur um Verteidigung, sondern auch um eine mögliche Intervention, sagte der Nahost-Experte Veysel Ayhan unserer Zeitung. Die Tatsache, dass die Zahl der syrischen Flüchtlinge inzwischen auf mehr als 100.000 Menschen gestiegen ist, lässt die Spannungen weiter steigen: Ankara argumentiert, dass die wachsende Flüchtlingszahl eine Schutzzone auf syrischem Boden notwendig macht.

Ihre Entschlossenheit in der Syrien-Krise unterstrich die Türkei am Montag auch mit der erzwungenen Landung eines weiteren ausländischen Flugzeuges, das auf dem Weg nach Syrien war. Eine armenische Frachtmaschine mit Kurs auf die umkämpfte nordsyrische Wirtschaftsmetropole Aleppo legte auf türkischen Druck hin im ostanatolischen Erzurum einen Zwischenstopp ein, wo sie durchsucht wurde. Am Mittag erteilten die türkischen Behörden die Erlaubnis zum Weiterflug.

Nach übereinstimmenden türkischen und armenischen Angaben hatte das Flugzeug humanitäre Hilfsgüter an Bord. Die Türkei besteht aber darauf, alle Flugzeuge zu kontrollieren, die auf dem Weg nach Syrien ihren Luftraum durchqueren. „Das zeigt, wie ernst wir es meinen“, sagte Vizepremier Bülent Arinc.

Vergangene Woche hatten türkische Fahnder nach Angaben Ankaras in der Ladung einer abgefangenen syrischen Passagiermaschine einige Rüstungsgüter für Damaskus entdeckt. Der Zwischenfall hat einen heftigen Streit zwischen der Türkei und Syrien ausgelöst.

Türkische Soldaten an der Grenze zu Syrien.
Türkische Soldaten an der Grenze zu Syrien.

© AFP

Auch an der 900 Kilometer langen Landgrenze zwischen beiden Ländern wachsen die Spannungen weiter. Seit dem Tod von fünf Zivilisten durch eine syrische Granate am 3. Oktober hat die türkische Armee zusätzliche Panzer- und Artillerieverbände in die Grenzregion verlegt und auch die Zahl der Kampfflugzeuge auf den Militärbasen in der Region aufgestockt. Generalstab und Außenamt der Türkei haben Syrien mit harten Militärschlägen gedroht.

Ayhan, Chef des Ankaraner Forschungsinstituts IMPR, sieht in den Truppenverstärkungen ein Zeichen dafür, dass sich die Türkei auf ein militärisches Eingreifen in Syrien vorbereitet. Schon jetzt sorge der militärische Druck dafür, dass entlang der Grenze eine Art Schutzzone entstehe, die den syrischen Rebellen nütze. Auch Celalettin Yavuz, Vizedirektor der Denkfabrik Türksam und ehemaliger Offizier der türkischen Marine, beobachtet eine für Friedenszeiten höchst ungewöhnliche Aktivität der Armee. Allerdings geht er davon aus, dass sich die Türkei vor allem für einen möglichen erneuten Beschuss der Syrer wappnen will.

Zur Entschärfung der Lage forderte der internationale Syrien-Vermittler Lakhdar Brahimi am Montag eine Waffenruhe in Syrien während des muslimischen Opferfestes in der kommenden Woche. Vor dem Beginn des Festes am 25. Oktober will Brahimi in Damaskus mit Präsident Baschar al-Assad sprechen, dessen Regierung bisherige Appelle für einen Waffenstillstand zurückgewiesen hat.

Deshalb rückte am Montag die Forderung der Türkei nach Einrichtung einer international überwachten Schutzzone in Syrien in den Mittelpunkt. Nach Mitteilung des Katastrophenschutzamtes in Ankara ist die Zahl der in den 14 Auffanglagern der Türkei registrierten syrischen Flüchtlingen auf 100.363 Menschen gestiegen. Hinzu kommen noch etwa 30.000 Syrer, die sich außerhalb der Lager aufhalten und sich Wohnungen oder Häuser in der Türkei gemietet haben.

Außenminister Ahmet Davutoglu betrachtet die Schwelle von 100.000 Flüchtlingen als psychologisch wichtige Marke, die ein internationales Eingreifen erfordert. Die Uno geht davon aus, dass die Zahl der bisher rund 300.000 syrischen Flüchtlingen in den Nachbarländern bis zum Jahresende auf etwa 700.000 steigen könnte.

Die Türkei wäre von einer solchen Dimension überfordert. Angesichts der Differenzen im New Yorker Sicherheitsrat ist derzeit kaum mit einer UN-Entscheidung für die Errichtung einer Schutzzone zu rechnen. Einige Länder wie Frankreich hatten in den vergangenen Monaten aber einen solchen Einsatz außerhalb des UN-Rahmens angedeutet. Der türkische Truppenaufmarsch könnte daher auch der Vorbereitung einer multilateralen Intervention dienen.

In diesem Zusammenhang ist der Ruf von EU-Minister Egemen Bagis nach Übernahme eines Teils der syrischen Flüchtlinge durch Europa ein wichtiger Schritt: Die Türkei weiß, dass die Europäer nicht viele Syrer aufnehmen werden, will ihre Partner im Westen aber daran erinnern, dass die Syrien-Krise auch sie angeht.

Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass mindestens 30.000 Menschen seit Beginn der Gewalt in Syrien vor gut eineinhalb Jahren getötet worden sind. „Wir haben nicht die Möglichkeit, genaue Zahlen festzustellen oder zu überprüfen. Aber wir müssen mittlerweile von 30 000 Toten ausgehen“, sagte der UN-Untergeneralsekretärs für Politische Fragen, Jeffrey Feltman, am Montag im UN-Sicherheitsrat.

„Die Gewalt des Konflikts hat erneut eine neue Dimension erreicht. Folter und Erschießungen sind alltäglich“, sagte Feltman weiter. „Dieser Konflikt kann nicht militärisch gewonnen werden. Und wenn, dann wären die Kosten unfassbar hoch und würden zulasten der Zivilisten gehen.“ Feltman forderte die syrische Regierung auf, einem Waffenstillstand zuzustimmen.

Zudem dürfe kein Staat irgendeine Partei mit Waffen versorgen. Die Warnung, dass der Konflikt auf die ganze Region übergreife, sei längst von der Realität überholt. Die Spannungen mit der Türkei, an den Golan-Höhen und der Grenze zu Libanon müssten für den Sicherheitsrat Anlass zu größter Sorge sein.

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