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Die britische Premierministerin Theresa May.

© Lukas Coch/dpa

Update

Großbritannien: Die Brexit-Irrfahrt im gelben Unterseeboot

Großbritannien ist in der Hand der konservativen Hardliner. Wie positioniert sich Theresa May in ihrer angekündigten Europa-Rede? Eine Analyse.

Ringo Starr hat sich dieser Tage auch zum Brexit geäußert. Er sei dafür, hätte auch dafür gestimmt, wäre er im Land gewesen, sagte er lässig in einem TV-Interview, es sei ja eine großartige Sache, man müsse das Austrittsvotum ernst nehmen und die Regierung von Premierministerin Theresa May solle die Sache jetzt mal voranbringen. Man muss sich nicht wundern. Ringo ist 77, er will einfach bei seinen Altersgenossen sein, und die Beatles-Generation hat bekanntlich in großer Mehrheit für den Brexit gestimmt. Und er hat in seiner lakonischen Art ja nur eine Tatsache bestätigt: Es gibt ein Austrittsvotum, also muss man dem folgen. Brexit means Brexit, wie Premierministerin Theresa May gern betont.

William Spicer ist ein bisschen jünger als Ringo. Der früher sehr einflussreiche Hinterbänkler in der Konservativen-Fraktion im Unterhaus sitzt mit seinen 73 Jahren jetzt im House of Lords und stärkt dort den Flügel der Brexit-Hardliner. Er hält gern patriotische Reden, was vorige Woche so klang: „Historisch betrachtet sind wir ziemlich gut beim Freihandel. Wir haben als Piraten im 16. Jahrhundert begonnen, aber haben uns weiterentwickelt. Wir sind sehr erfolgreich gewesen.“

Großbritannien als große Handelsnation auf den Weltmeeren, das ist Spicers Vision (in der Freihandel und Freibeutertum irgendwie zusammenhängen). Ein Teil der Briten, so scheint es, hat sich in ein gelbes Unterseeboot zurückgezogen, voll mit Memorabilien vergangener Zeiten zwischen Francis Drake und Swinging London. „Sky of blue and sea of green“. Und in Brüssel herrschen die Blue Meanies.

Johnson gibt den Nationalisten

Das Problem ist freilich, dass es in der britischen Bevölkerung krude Meinungen gibt, die weit über die Beatles-Generation hinausreichen und leider nicht ganz so lustig sind wie „Yellow Submarine“. Es sind nationalistische Ansichten, jenseits aller patriotischen Eigenwilligkeiten, und dieser Nationalismus richtet sich am Widerstand gegen die Europäische Union auf, die vielen auf der Insel als Monstrum erscheint, das nur dazu dient, das britische Volk zu unterjochen und es seiner demokratischen Souveränität zu berauben.

Diese Sorte von U-Boot-Fahrern hat Boris Johnson, der Außenminister, jetzt mal wieder aus dem Herzen gesprochen. Mit einem langen Artikel im „Daily Telegraph“ wollte er kurz vor dem Parteitag der Konservativen Anfang Oktober seinen durch blasse Amtsführung etwas ramponierten Ruf als führender „Brexiteer“ retten. Großbritannien werde mit dieser nationalen Unternehmung, dem Austritt aus der EU, „mächtig Erfolg haben“, schrieb er. Großbritanniens Rolle in Europa und in der Welt sieht er an der Spitze der Länder, „die auf uns schauen, wenn es um Führung geht für mehr Deregulierung und freie Märkte, und welche der zentralisierenden Rolle der EU-Kommission widerstehen wollen“.

Den jungen Briten, welche die Europa-Flagge schwenken, wirft er gespaltenes Bewusstsein vor. Johnson bemüht die alte Erzählung der Tory-Rechten (und der Ukip-Rechtspopulisten um Nigel Farage), dass Großbritannien sich in der EU immer umsonst bemüht habe, dass stets „mehr Europa“ gewonnen habe. Daher wolle man jetzt nicht mehr länger stören – „immer mit dem Versuch, die Dinge anders zu machen, immer im Weg zu stehen, stets nörgelnd und jammernd“.

Freilich kann sich diese beleidigte Klage nicht auf Großbritannien beziehen, das EU-Mitgliedsland, sondern immer nur auf die Konservative Partei, die seit Jahrzehnten vor allem eines tut, ohne Unterlass und ohne Ergebnis: Sie streitet über Europa und die Rolle des eigenen Landes in dieser Union, dass die Fetzen nur so fliegen. Johnsons „Telegraph“-Artikel, mit dem er sich den konservativen Antieuropäern wärmstens empfehlen will, ist ein weiteres Kapitelchen in dieser „never ending story“.

Londoner rote Linien

Johnsons Plädoyer: Raus aus der EU, raus aus dem Binnenmarkt, raus aus der Zollunion. Das ist keineswegs eine radikale Abkehr von der Regierungslinie. Premierministerin Theresa May wird das am Freitag in ihrer groß angekündigten Europa-Rede in Florenz wohl auch sagen. May wird die „roten Linien“ ihrer Regierung betonen: eigene Migrationspolitik, eigene Grenzkontrollen, keine absolute Freizügigkeit (was Vorzugsrechte für EU-Bürger nicht ausschließen muss), dazu eine eigenständige Handelspolitik und bloß keinen direkten Einfluss des Europäischen Gerichtshofs in Großbritannien.

May wird die Trennungsabsicht aber auch mit dem Angebot einer neuen Partnerschaft mit der EU verbinden, wie sie zuletzt am deutlichsten in dem Regierungspapier aus London zur künftigen Sicherheits- und Verteidigungskooperation herauszuhören war. Sie will so viel Nähe, wie es im Status eines Dritt-Landes möglich ist (und diesen Status will die EU, so hat sich auch Kanzlerin Angela Merkel geäußert). Am ehesten könnte die angestrebte Partnerschaft dem Verhältnis der Schweiz zur EU ähneln - die Regierung in Bern hat sich für ihre Form des Binnenmarktzugangs (über eine Vielzahl von Einzelvereinbarungen) freilich verpflichtet, EU-Recht zu übernehmen, Beiträge an die EU zu zahlen und die Freizügigkeit von Personen zu akzeptieren. Johnson und die Hardliner lehnen Zahlungen an die EU nach dem Austritt kategorisch ab und denken eher an einen klassischen Handelsvertrag wie das Ceta-Abkommen zwischen der EU und Kanada.

Wie Schatzkanzler Philip Hammond oder Innenministerin Amber Rudd (die „Vernunft-Brexiter“) will May keine Politik gegen die EU machen, wenn diese es ebenso mit dem Königreich hält. Hammond hat gerade erst unterstrichen, man wolle keine Konflikte mit der EU, wenn es etwa um Finanzmarktregulierung geht (vorausgesetzt eben, dass die zentrale Rolle des Londoner Finanzmarktes nach dem Austritt vom Kontinent her nicht zu sehr bedroht wird). May & Co. mögen einen harten Brexit hinlegen, aber sie wollen die Bindungen nicht kappen.

Kein Kooperationsprojekt

Johnson klingt mit seinem nationalistischen Pamphlet etwas anders. Großbritannien könne nach einem radikalen Brexit "das großartigste Land der Erde" werden, schreibt er – mit weniger Regulierung und mit Steuerkürzungen. Großbritannien soll in seiner Vision genau das sein, was Hammond wegzureden sucht, um bei den EU-Partnern Sorgen zu verscheuchen und damit die Verhandlungen nicht zu belasten: eine Art Steueroase direkt am europäischen Zaun mit einer stark deregulierten Finanzbranche. Ein Konkurrenzprojekt, kein Kooperationsprojekt.

London soll das mächtige, global agierende und weltweit attraktive Finanzzentrum bleiben, mit dem die EU in den Schatten gestellt wird (und der Londoner Finanzmarkt ist für die Staats- und Unternehmensfinanzierung in der EU nicht ganz unwichtig). Man sollte dabei aber immer auch im Hinterkopf haben, dass der frühere konservative Schatzkanzler Kenneth Clarke in seinen Erinnerungen die Londoner City als „Welthauptstadt der Geldwäsche“ bezeichnet hat. So klingt auch in Johnsons Freihandels-Vision das Freibeuterische an.

May hat es nicht leicht mit ihrer Partei, die sie vor Jahren einmal als die „nasty party“ bezeichnet hat – was man am besten mit fies, garstig oder scheußlich übersetzt. Auch gut ein Jahr nach dem Brexit-Referendum sind die Tories in sich völlig zerstritten, und es ist nicht ersichtlich, dass sich das ändern wird. Der Flügel der harten EU-Gegner (von denen nicht wenige schlicht und ergreifend EU-Hasser sind) bleibt stark und treibt die Partei, ja das ganze Land (mit Unterstützung der EU-Gegner bei Labour) vor sich her.

Dieses Zerwürfnis zwischen Hardlinern und Moderaten ist offenbar ohne Parteispaltung nicht zu überwinden, und die scheuen beide Seiten. So ist das ganze Land, so sind vor allem die Remain-Regionen (London und andere Großstädte mit liberaler Bevölkerung, Schottland, Wales, Nordirland) Geiseln einer Partei, die aus ihrem destruktiven Streit nicht herausfindet, den der tragische Premier David Cameron durch das fatale Referendum hat beenden wollen.

Traut sich May etwas in Florenz?

Und May, seit dem fehlgeschlagenen Wahl-Coup im Juni angezählt, ist auch abhängig von dem Flügel ihrer Partei, dem sich Johnson wieder angedient hat und der sich in dem schrullig-reaktionären Landjunker Jacob Rees-Mogg einen neuen Helden aufbaut. So darf man gespannt sein, ob sich May in Florenz traut, die etwas ins Stocken geratenen Verhandlungen mit der EU in der aktuell entscheidenden Frage voranzubringen: der Erfüllung jener finanziellen Verpflichtungen Großbritanniens, welche die EU aufgemacht hat (bisher ohne konkrete Summe) und welche die Brexit-Hardliner als eine solche Zumutung betrachten, dass sie mit einem Austritt ohne Nachfolgevereinbarung liebäugeln - den sie ohnehin bevorzugen, doch brauchen sie ein Szenario, in dem sie ihn vor der eigenen Bevölkerung der EU in die Schuhe schieben können.

May wird daher wohl nur versuchen, die „Austrittsrechnung“ (so der Brexiter-Slogan) an die von London gewünschte und von der EU längst akzeptierte Übergangsphase zu binden, die laut Hammond möglichst nah am Status quo der EU-Mitgliedschaft eingerichtet werden soll. Am Mittwoch berichtete die "Financial Times", May werde den EU-Partnern anbieten, eine Summe von 20 Milliarden Euro zur Deckung des EU-Haushalts bis Ende 2020 zu zahlen, also über den Austritt ihres Landes hinaus, der im März 2019 erfolgt. Damit käme sie einer Erwartung in Brüssel entgegen, freilich gehen die Vorstellungen der EU darüber hinaus und beziehen sich auch auf die Pensionen der EU-Beamten oder Bürgschaften für Kredite etwa für die Ukraine.

Ewiger Furor

Was sie wohl nicht ansprechen wird, obwohl es dafür auch unter Konservativen Unterstützung gäbe, ist eine künftige Partnerschaft in einem bereits bestehenden institutionellen Rahmen. Eine Tory-Regierung muss mit einigen Dutzend Abweichlern im Unterhaus kalkulieren, würde sie von sich aus einen „weicheren Brexit“ anstreben. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Freihandelszone Efta und im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), was eine Einbindung in den EU-Binnenmarkt bedeuten würde, dürfte nicht Regierungspolitik werden. Jedenfalls nicht, bis das Lager der EU-Befürworter sich im Unterhaus und im Oberhaus parteiübergreifend entschließt, auf diese Lösung zu dringen.

Doch was wäre dann? Würde Großbritannien diese Efta/EWR-Lösung wählen oder von der EU angeboten bekommen, die nationalistischen Tory-Freibeuter würden nicht ruhen, ihr gegen die „protektionistische EU“ (so Lord Spicer) gerichtetes Zerstörungswerk mit neuem Furor aus dieser Position heraus anzugehen. Es ist einfach so: So lange die britischen Konservativen einen starken antieuropäischen Flügel haben, so lange wird Großbritannien nicht dauerhaft in der Lage sein, sich dem EU-Modell einer zwar freien, aber geregelten und sozialen Marktwirtschaft anzunähern, das eine unbelastete Mitgliedschaft in der Union zulässt.

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