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Wohin führt Labour-Chef Jeremy Corbyn seine Partei?

© Daniel Leal-Olivas/AFP

Großbritannien: Wo ist die Partei der 48 Prozent?

Die britischen Parteien sind seit dem Brexit-Votum in Bewegung. Theresa May hat die Tories neu positioniert. Jeremy Corbyn dagegen führt Labour auf die falsche Spur. Eine Analyse.

Dass die Regierungspartei in Großbritannien eine Nachwahl gewinnt, kommt nicht eben häufig vor. Das letzte Mal war das 1982 der Fall. Jetzt aber ist den Konservativen von Premierministerin Theresa May ein solcher Coup in Copeland geglückt, einem Wahlkreis im fernen Nordwesten Englands, bekannt vor allem als Standort des Atomkraftanlage Sellafield. Die Tories nahmen Labour den Wahlkreis am Donnerstag weg. Seit 1935 hatte Labour dort stets gewonnen – umso demütigender ist die Niederlage mit 44,2 Prozent zu 37,3 Prozent.

Wie es scheint, hat May derzeit einen guten Lauf. Die Konservativen liegen landesweit in den Umfragen weit vorn, eine Parlamentswahl wäre aktuell ein Spaziergang für die Regierungspartei. 44 Prozent kämen dabei heraus, nach der neuesten ICM-Umfrage für den „Guardian“. Labour dümpelt in allen Erhebungen weit unter der 30-Prozent-Marke. Die Liberaldemokraten kämen auf acht Prozent, die rechtspopulistische Anti-EU-Partei Ukip würde bei 13 Prozent landen. Ein Grund dafür ist, dass May recht erfolgreich die Konservativen als nationale Partei profiliert hat, die den Austritt aus der ungeliebten EU mutig angeht – der Brexit werde weder hart noch weich, sondern „red, white and blue“ sein, sagt May seit Monaten unter Anspielung auf die britischen Nationalfarben. Zudem hat sie versprochen, sich stärker um die Sorgen und Nöte in der Arbeiterschaft und unter kleinen Selbständigen zu kümmern. Sie will also in Schichten punkten, in denen die Brexit-Befürworter beim Referendum im vorigen Juni besonders stark waren. In Copeland kam noch das lokale Spezifikum hinzu, dass die Nuklearindustrie dort der wichtigste Arbeitgeber, Labour-Chef Jeremy Corbyn aber ein erklärter Atomgegner ist.

Nationale Volkspartei

Mays Strategie, die Tories als nationale Volkspartei zu positionieren, die als Partei der „52 Prozent“ auftritt (also der Brexit-Mehrheit bei der Volksabstimmung), schlug freilich bei der zweiten Nachwahl am Donnerstag nicht durch. In Stoke, ebenfalls eine Labour-Hochburg, kamen die Konservativen nur auf den dritten Platz – mit 24,4 Prozent knapp hinter Ukip (24,7 Prozent), für die deren neuer Parteichef Paul Nuttall antrat. Im Gegensatz zu Copeland gelang es Mays Partei in der mittelenglischen Stadt nicht, die Rechtspopulisten kleiner zu machen. Stoke hatte mit fast 70 Prozent beim Referendum den höchsten Anteil an Brexit-Befürwortern. Den härtesten unter ihnen sind die Konservativen wohl nicht hart genug. Labour konnte angesichts der Spaltung rechts der Mitte den Wahlkreis mit 37,1 Prozent halten, kein glänzender Sieg, doch er zeigt, dass sich die Partei auch in einer Brexit-Hochburg behaupten kann (zumindest bei einer Wahlbeteiligung von 37 Prozent).

Doch wird der Erfolg in Stoke nicht dazu führen, dass es in der Labour-Partei ruhiger wird. Seit dem Referendum ist die Partei gespalten. Der Parteilinke Corbyn ist als Parteichef nach wie vor umstritten, erst recht, seit er die Unterhaus-Debatte über das Gesetz zum EU-Austrittantrag Mitte Februar betont defensiv anging. Offenkundig geht er davon aus, dass eine vage Haltung zum Brexit besser ist. Doch die Strategie, im Grundsatz für den Austritt zu sein, weil es das Volk so wollte, aber im Detail gegen die Politik von May anzugehen, wirkt halbherzig. Ex-Premier Tony Blair hat daher vor einigen Tagen aus dem Ruhestand heraus heftig gegen Corbyns Linie gewettert und dafür geworben, Labour müsse als Europa-Partei auftreten und den Austritt verhindern. Freilich ist der weithin unbeliebte Blair kein Kopf für eine solche Kampagne.

Corbyns Farblosigkeit

Dennoch hat sein Vorstoß Corbyns Farblosigkeit bloßgelegt. Einer kräftigen Regierungspartei muss eine Opposition eine klare Politik entgegenhalten, und am klarsten ist immer das Gegenteil. Das wäre ein Auftreten als Partei der „48 Prozent“, was eine Mehrheit der Labour-Abgeordneten im Unterhaus auch gerne sähe. Corbyns Ansatz basiert jedoch auf der Annahme, dass unter der klassischen Labour-Anhängerschaft viele für den Brexit gestimmt haben, nicht nur in Stoke, sondern in den meisten Wahlkreisen in Nord- und Mittelengland, wo es deutliche Austrittsmehrheiten gab. Gleichzeitig sind viele Städte, in denen die „Remainer“ siegten, ebenfalls Labour-Hochburgen. Daraus schließt die Labour-Führung bisher, es sei wohl am besten, nicht ganz gegen den Brexit zu sein, aber auch nicht ganz dafür. Freilich riskiert Corbyn damit, gerade jüngere, städtische, gut gebildete "Remainer" mit politischer Tendenz zur Mitte an die Liberaldemokraten zu verlieren. Die treten eindeutig proeuropäisch auf, wollen den Austritt verhindern und konnten in beiden Nachwahlen auch zulegen – wenn auch nicht so stark, wie Parteichef Tim Farron es sich wünscht.

Die Zweifel, ob die Basis von Corbyns Strategie trägt, wachsen derweil und werden durch das Ergebnis von Stoke bestärkt. Wenn Labour den Wahlkreis mit dem klarsten Brexit-Votum gegen die radikalen EU-Gegner von Ukip und Mays Rot-Weiß-Blau gewinnen kann, dann ist die Labour-Wählerschaft dort möglicherweise doch nicht so antieuropäisch. Darauf verweist auch der Politikwissenschaftler John Curtice, ein anerkannter Wahlforscher und BBC-Experte. Er legt dar, dass auch in Nord- und Mittelengland im Schnitt fast drei Fünftel der Labour-Wähler im vorigen Jahr für den Verbleib in der EU gestimmt hätten. Das legt nahe, das Profil der Partei in der Tat stärker auf die „Remainer“ auszurichten. In Stoke zeigte sich, dass Labour nicht Ukip zu fürchten hat – mit den Rechtspopulisten wird auch weiterhin eher Mays Partei ein Problem haben. Je stärker nämlich die Konservativen in den kommenden Monaten und Jahren in die Austrittsverhandlungen verwickelt werden, umso größer wird die Gefahr, dass EU-Gegner mit der Politik der Premierministerin unzufrieden werden. Denn in Verhandlungen, die zwangsläufig auf einen Kompromiss hinführen, verwischen sich klare Linien irgendwann. Davon können die Rechtspopulisten profitieren. Aber auch eine Labour-Partei, die jene Wähler sammelt, die das gesamte Brexit-Vorhaben ablehnen. Deren Zahl könnte wachsen, wenn im Lauf der Verhandlungen die wirtschaftlichen Nachteile eines Austritts offenkundiger werden.

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