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Großprojekt "Nationaler Dialog": Jemen, das geplünderte Land

Terror, Korruption, Gewalt: Kaum ein Staat der Welt ist so zerrissen wie der Jemen. Heute beginnt die Großkonferenz "Nationaler Dialog", die retten soll, was noch zu retten ist.

Aufgedunsen hängt der rechte Arm herunter, über den Rücken ziehen sich schwarze Brandstreifen, ein Ohr ist angekohlt, allein die linke Hand gestikuliert im Takt der Verse. „Revolution des Lebens“ – das Gedicht hat ihn unter den jungen Aufständischen im Jemen berühmt gemacht. „Wir werden nie mehr vor irgendjemandem auf die Knie gehen“, rezitiert Muneef al Zubeiri mit fester Stimme, mühsam aufgerichtet an der Kante seines Krankenbetts. „Denn wir sind stolz, auch wenn wir verhungern, auch wenn wir gegen Feuer und Flammen kämpfen müssen.“ Für einen Moment herrscht Stille in dem engen Dreibettzimmer des Gumhuria-Krankenhauses in Sanaa. Es riecht süßlich und stickig. Der Mitpatient, dem eine explodierende Kochgasflasche Brust und Beine verschmort hat, hört auf zu stöhnen. Der junge Arzt lässt die Tube mit der Brandsalbe sinken, mustert seinen schwer gezeichneten Dichterpatienten, der sich drei Tage zuvor mit Benzin übergossen und angezündet hatte, mit irritiert-bewunderndem Blick. Von draußen fällt strahlendes Morgenlicht durch das kleine Fenster.

Tagelang habe er mit sich gerungen, sagt Muneef al Zubeiri, einer der populärsten Poeten des Arabischen Frühlings im Jemen. Musiker vertonten seine Verse, im ganzen Land sangen junge Aufständische sie als Hymnen im Kampf gegen Langzeit-Machthaber Ali Abdullah Saleh. Normalerweise wartet der 33-Jährige Panzermotoren bei der Armee. An diesem Februartag aber ging er in der Mittagspause zum Sitz des Ministerpräsidenten auf dem Al-Qaa-Platz, wo seit fast zwei Wochen Schwerverletzte der Revolution im Hungerstreik sind, weil ihnen eine medizinische Behandlung im rettenden Ausland versprochen worden und seit Monaten nichts geschehen war. „Wir wollen eine zweite Revolution“, hörten ihn Augenzeugen plötzlich aus Leibeskräften brüllen, bevor sein Körper in einer Riesenflamme verschwand – genauso wie vor zwei Jahren in Tunesien der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, dessen Verzweiflungstat den Arabischen Frühling auslöste. Auch Muneef al Zubeiri setzte etwas in Gang. Innerhalb von Tagen erhielten zehn von Jemens Härtefällen endlich die Flugtickets zu Krankenhäusern in Deutschland und auf Kuba.

Ansonsten sind die Zelte der Revolutionäre schon lange aus dem Zentrum von Sanaa verschwunden, auf dem sogenannten Platz der Veränderung herrscht wieder geschäftiger Alltag. Ein Jahr lang hatten Jemens Aufständische hier zu Tausenden gelagert, Scharfschützen und Regierungsschlägern genauso getrotzt wie Kälte, Regen und brütender Hitze. Dann endlich gab der seit 33 Jahren herrschende Ali Abdullah Saleh auf, wich zurück vor der Unbeugsamkeit seiner jungen Kontrahenten und dem politischen Druck der benachbarten Golfstaaten, um ein Haar zerrissen durch eine Bombe, die Attentäter in seiner Palastmoschee deponiert hatten. Seitdem verbirgt der Ex-Präsident die verstümmelten Hände in Wollhandschuhen. Seine zerfetzte Hose sowie Devotionalien seiner wunderbaren Errettung lässt er in einem kleinen Pavillon im Stadtzentrum zur Schau stellen. Jeden Vormittag hält der 70-Jährige in seinem Prunkanwesen mit weitläufiger Gartenanlage Hof, nachmittags folgen drei Stunden Krafttraining und Physiotherapie, wie er kürzlich einer saudischen Zeitung verriet.

"Unser großes Ziel haben wir bisher nicht erreicht"

Ansonsten zieht er nach wie vor die Strippen in Jemens Politik, als wäre nichts geschehen. Unangefochten amtiert er weiter als Chef seiner alten Regimepartei „Nationaler Volkskongress“ und verfügt über „Geld ohne Ende“, wie ein westlicher Diplomat formuliert. Zwischen zehn bis zwanzig Milliarden Dollar soll er als Staatschef auf die Seite geschafft haben, ein dichter Filz aus Macht, Reichtum, Familienbanden und Günstlingswirtschaft, gegen den seine Gegner bisher machtlos sind. Jeden Freitag versammeln sie sich nach wie vor zum Massengebet auf der vierspurigen Schara Sitteen. Eisverkäufer auf China-Fahrrädern kreisen durch die fromme Menge, Händler bieten Kakteenfrüchte feil und rosa Zuckerwatte in länglichen Tüten. „Die ganze Welt soll hören – wir wollen Demokratie“, skandieren die Menschen und: „Endlich Schluss mit der Korruption.“

Fakrir al Asbahi ist schwarz verhüllt bis auf einen schmalen Augenschlitz, trägt eine knallrote Baseball-Kappe. Im Arm hält sie eine Mappe mit dem Foto ihres getöteten Bruders Nasr. Vier Kugeln eines Scharfschützen töteten ihn, als er einen Verwundeten bergen wollte. „Unser großes Ziel haben wir bisher nicht erreicht“, sagt die 37-Jährige, Worte, bei denen ihr die Hände zittern. „Wir wollen einen modernen Staat, Gerechtigkeit und Sicherheit.“

Doch was diese Begriffe im heutigen Jemen bedeuten, weiß niemand. Zu viele Kräfte sind am Werk, zerren in alle Richtungen. „Nationaler Dialog“ heißt jetzt die neue politische Zauberformel: Am heutigen Montag beginnt Jemens Großkonferenz, das historische Projekt von Salehs Nachfolger, dem vor einem Jahr per Volksentscheid ins höchste Staatsamt gekommenen Präsidenten Abdu Rabbu Mansour Hadi. Doch der Neue zaudert und scheut die Öffentlichkeit, versteckt sich meist mit wenigen Getreuen hinter acht Meter hohen Mauern und Sichtblenden. Seine Macht reiche nicht einmal zwei Kilometer über sein Palastareal hinaus, spottet Friedensnobelpreisträgerin Tawakkul Karman, die Hadi ansonsten für eine ehrliche Haut hält. Die Tagesordnung des „Nationalen Dialogs“ ist hoffnungslos überfrachtet – neue Verfassung und neues Wahlgesetz, neue Struktur für die gespaltene Armee, Entrümpelung des öffentlichen Dienstes und Kampf gegen Al Qaida, Sezessionsbewegung im Süden und Houthi-Aufstand im Norden. Alle Beschlüsse brauchen eine 90-Prozent-Mehrheit der 565 Delegierten – ein Veto-Modus, der endlose Palaver und politisches Dauertaktieren verspricht, nur keine tragfähigen Entscheidungen.

Derweil drohen die Zentrifugalkräfte den Jemen zu zerreißen. Im Norden streben die schiitischen Houthis nach mehr Autonomie, unterstützt vom Iran. Zu Zeiten Salehs haben sie sechs Bürgerkriege gegen die sunnitische Zentralregierung in Sanaa geführt. Jetzt lassen sie in ihren Hochburgen demonstrativ uniformierte Marschkolonnen nach Hisbollah-Manier durch die Straßen paradieren. Der Süden will mit solch fanatischer Wucht raus aus dem gemeinsamen Staat, dass dies zu Krieg führen könnte. Mauern und Haustüren in der Südmetropole Aden sind bedeckt von Sezessionsflaggen mit tiefblauem Dreieck. „Aden verblutet“ steht an die Wände gesprüht.

Die Verfehlungen des Nordens

Wichtiger politischer Kopf des Hirak, wie sich die Autonomiebewegung seit 2007 nennt, ist Mohammed Haidara Masdous, Anfang der 90er Jahre war er Vizeregierungschef, später Gouverneur der Provinzen Abjan und Lahj. Er empfängt seine Besucher barfuß und in traditioneller Kleidung. Vor ihm auf dem Sitzkissen liegt ein Smartphone, das sich ständig mit gedämpftem Summen meldet. Kein Tag vergeht ohne Morddrohungen per SMS.

Wie eine Litanei zählt der 66-Jährige, der einst in Moskau Philosophie studierte, die Verfehlungen des Nordens bei der Wiedervereinigung 1990 auf, die vier Jahre später mit einem kurzen blutigen Krieg besiegelt wurde. Die Bodenschätze seien geplündert worden, die Fabriken zerstört, die Währung abgeschafft. Tausende Offiziere der Armee hätten Einkommen und Pensionen verloren, 20 000 Grundstücke seien enteignet worden, Süd-Jemeniten bis heute in der Politik und Verwaltung diskriminiert. „Wir wollen unser gestohlenes Eigentum zurück und einen Dialog auf Augenhöhe“, sagt er – Forderungen, die manche besonnene Politiker aus dem Norden als durchaus berechtigt anerkennen. Trotzdem will Masdous nichts wissen vom „Nationalen Dialog“. Denn der würde die Zwangsvereinigung des Jemen nur nachträglich legitimieren, wie er sagt.

„Keine Stabilität und keine Sicherheit ohne die Wiederherstellung von Südjemen“, brüllen die Demonstranten auf dem Tawahi-Platz im Stadtzentrum. Alle vereint inbrünstiger Hass auf den Norden. „Wir sind zivil, die sind religiös. Wir sind modern, die laufen noch mit Stammeshirn herum“, deklamiert jemand mit sich überschlagender Stimme. Egal ob Armut, schlechte Ernten, Stromausfälle oder Al Qaida, an allem ist in ihren Augen der Norden schuld. Nach Einbruch der Dunkelheit entlädt sich die kollektive Erregung in Gewalt. Sicherheitskräfte eröffnen das Feuer, an diesem Abend sterben zwei Menschen, an anderen Tagen sind es noch viel mehr. Der politische Terror der einstigen prosowjetischen Herrscher, die Schlangen vor den Lebensmittelläden und jahrelangen Bespitzelungen sind dagegen 23 Jahre nach dem Untergang der Republik Südjemen hinter einem rosa Vorhang nostalgischer Erinnerungen verschwunden.

Im entfernten Sanaa dagegen macht sich Dichter Muneef al Zubeiri auf eine ganz eigene Reise in die Vergangenheit. Es geht ihm langsam besser. Die durch seine Selbstverbrennung erzwungene Rettung der Schwerverletzten hat ihn aufgerichtet. Zeit, an sein großes Vorbild Günter Grass zu denken. „Durch ihn habe ich meine Liebe zur Poesie entdeckt“, sagt er. Einmal, 2004 auf einer Lesung in Sanaa, ist er dem deutschen Literaturnobelpreisträger begegnet. Heimlich habe er sich damals aus der Kaserne geschlichen, um rechtzeitig im Kulturzentrum zu sein. Dass er hätte sterben können in seiner Flammenhölle, weiß er. Irgendwann will er ein Gedicht schreiben über seine Beinahe-Selbstzerstörung. Aber noch sind die Wörter in seinem Kopf wie ausradiert – „ich bin einfach zu verwirrt“, murmelt er. So wie seine Heimat Jemen.

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