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Auch ein Protest. In Stuttgart reißt der Widerstand gegen das Bahnhofsprojekt nicht ab. Vor allem die Grünen profitieren.

© REUTERS

Grünen-Kandidat Kretschmann: "Das Amt muss zum Mann kommen"

Der baden-württembergische Grünen-Spitzenkandidat Winfried Kretschmann spricht mit dem Tagesspiegel über die Wahlaussichten der Grünen, Stuttgart 21 und Renate Künast.

Herr Kretschmann, erinnern Sie sich noch an den 12. Dezember 1985?

Klar. Damals wurde Joschka Fischer im hessischen Landtag vereidigt – als erster grüner Umweltminister der ersten rot-grünen Koalition in Deutschland. Das Foto der Vereidigung – Fischer trug Turnschuhe – ist unvergessen, weil es eine Zäsur der deutschen Parteiengeschichte festgehalten hat.

Von Ihnen könnte es bald auch ein historisches Foto geben …

Moment, Moment. Wir stehen fünf Monate vor der Landtagswahl in Baden- Württemberg. Da denke ich nicht über historische Fotos nach.

Trotzdem können Sie damit rechnen, nach der Wahl der erste grüne Ministerpräsident der ersten grün-roten Koalition in Deutschland zu werden. Beflügelt Sie die Vorstellung nicht?

Seit meiner linksradikalen Vergangenheit als Student habe ich mir Machtfantasien abgewöhnt. Wir wollen gestalten und sind dafür gut aufgestellt. Wir werden die Verantwortung annehmen, wenn der Wähler uns in die Pflicht nimmt und uns die Verantwortung für dieses Land zuweist. Auch ich persönlich.

Klingt nicht sonderlich begeistert.

Winfried Kretschmann
Winfried Kretschmann

© dpa

Ich kann da nur den früheren Ministerpräsidenten Erwin Teufel zitieren: „Das Amt muss zum Mann kommen, nicht der Mann zum Amt.“ Was auf uns zuläuft, nehmen wir an, aber erst mal müssen wir uns kümmern. In den Umfragen kommt eine hohe Erwartungshaltung an uns Grüne zum Ausdruck. Der müssen wir gerecht werden – vor und nach der Wahl.

Werden die Grünen Stuttgart 21 stoppen, wenn sie an die Regierung kommen, wie es Ihr Parteifreund, der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, verspricht?

Wir setzen alles daran, so schnell wie möglich aus dem Projekt auszusteigen. Jetzt geht das auf jeden Fall noch. Ob das nach den Landtagswahlen noch möglich ist, kann seriöserweise niemand sagen.

Warum nicht?

Die Lage ist doch so: Während der laufenden Schlichtungsgespräche gibt es einen Bau- und Vergabestopp. Stand heute müssen wir davon ausgehen, dass die Projektträger nach Ende der Gespräche, Anfang Dezember, Bauaufträge vergeben werden, vertragliche Verpflichtungen eingehen, sprich: auf Teufel komm raus Fakten schaffen werden. Wir können demnach heute beim besten Willen nicht einschätzen, wie sich die juristische Lage Ende März darstellt, das heißt, ob und wenn ja, zu welchem Preis wir noch aussteigen können. Wenn es irgendwie geht, werden wir nach der Wahl aussteigen beziehungsweise dazu einen Volksentscheid einleiten, aber wir versprechen nichts, was wir gegebenenfalls nicht halten können.

Stuttgart 21 ist demokratisch legitimiert, jetzt verlangen Sie im Nachhinein eine Volksabstimmung. Was ist der Parlamentarismus noch wert, wenn man seine Mehrheitsentscheidungen je nach Stimmungslage gelten oder eben nicht gelten lässt?

Wenn ein Parlament seine Kontrollaufgaben nicht wahrnimmt, dann ist die Legitimität seiner Entscheidungen so löchrig wie ein Schweizer Käse. Und genau das ist der Fall bei Stuttgart 21. Hier hat der Landtag kritiklos immer höhere Kosten der Bahn durchgewunken. Von Kontrolle keine Spur. Und das ist kein Einzelfall. Das Struck’sche Gesetz, wonach kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es eingebracht wurde, gilt in Stuttgart nicht. Im Gegenteil: Noch kein Gesetz hat den Landtag anders verlassen, als es reingekommen ist. Das zeigt, dass die Mehrheit dieses Parlaments den Parlamentarismus selber nicht ernst nimmt.

Welche Konsequenzen hätte es für die Bundespolitik, wenn die Grünen in Baden-Württemberg die CDU nach 57 Jahren als stärkste Regierungspartei ablösen würden?

Das wäre eine tektonische Verschiebung der Parteienlandschaft. Ich glaube kaum, dass die schwarz-gelbe Regierung im Bund die Erschütterungen unbeschadet überstehen würde.

SPD-Chef Sigmar Gabriel sagt, die Beschränkung der Grünen auf wenige Themen reiche für politische Führung nicht aus.

Ich unterstelle dem SPD-Vorsitzenden, dass er es besser weiß. Immerhin hat seine SPD acht erfolgreiche Jahre mit uns im Bund regiert. Das schaffen sie nicht mit nur zwei oder drei Themen im Gepäck. Und wenn ich dann zurückdenke an die Schröderschen Erfolgsbilanzen, dann waren das immer grüne Initiativen, die er hervorgehoben hat. Die SPD soll sich lieber um sich selbst kümmern, als sich in tendenziöse Beurteilungen unserer Politik zu verlieren.

Wahrscheinlich würden die Wähler nach einem Sieg in Baden-Württemberg härtere Maßstäbe an die Grünen anlegen. Ist Ihre Partei darauf vorbereitet?

Auf meine Initiative hin hat die Fraktionsvorsitzenden-Konferenz der Grünen eine Arbeitsgruppe über nachhaltige Finanzpolitik eingesetzt. In Baden-Württemberg ist es gute Sitte bei den Grünen, auch in der Opposition jede Initiative, die von uns kommt, gegenzufinanzieren. Eine „Wünsch-dir-was-Politik“ gibt es bei uns nicht. Wenn wir so stark werden, wie die Umfragen es gegenwärtig nahelegen, können wir es uns auch andernorts nicht mehr erlauben, in Wahlprogrammen das gleiche Geld für zwei verschiedene Wunschprojekte auszugeben.

Grünen-Fraktionschefin Renate Künast will in Berlin Regierende Bürgermeisterin werden. Wie kann eine Partei, die vor allem vom Bildungsbürgertum gewählt wird, die Interessen der gesamten Berliner Bevölkerung wahrnehmen?

Wer soll es denn sonst tun als Renate Künast und die Grünen? Berlin muss wirtschaftlich endlich auf die Füße kommen und darf nicht ewig am Tropf des Länderfinanzausgleichs hängen bleiben. Das Gerede von Klaus Wowereit, die Stadt sei „arm, aber sexy“, zeigt doch, dass die SPD die Herausforderungen nicht begriffen hat. Ich traue Renate Künast zu, dass sie die Stadt nach vorne bringt. Sie ist eine mutige und entschlossene Politikerin.

Das Gespräch führten Stephan Haselberger und Hans Monath.

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