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Grünen-Rechtsexperte Jerzy Montag: ''Verwahrung ist keine Strafhaft''

Herr Montag, europäische Richter haben die Sicherungsverwahrung in Deutschland gerügt. Welche Folgerungen muss das Parlament aus dem Urteil ziehen?

Bei der derzeitigen Ausgestaltung ist die Verwahrung menschenrechtlich als Strafe zu behandeln. Nachträgliche Verschlechterungen sind damit unzulässig.

Müssen Gesetze geändert werden?

Der entschiedene Fall ist ein Sonderfall. Es ging nur um den nachträglichen Wegfall der früheren Obergrenze von zehn Jahren. Unmittelbar betroffen sind also nur Täter, die nach ihrer oftmals langen Haftstrafe bereits zehn Jahre verwahrt worden sind. Ich glaube, dass es deutlich weniger als 70 sind. Man darf nicht vergessen: Alle zwei Jahre wird geprüft, ob ein Täter aus der Verwahrung entlassen werden kann. Das geschieht öfter. Nicht alle sitzen bis zum Ende.

Dennoch: Müssen gefährliche Täter entlassen werden?

Das werden wir sehenden Auges tun müssen, aber nicht unmittelbar. Anders als Urteile des Bundesverfassungsgerichts haben Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) keine unmittelbare Bindung. Solange das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, bleiben die Leute in Haft.

Die Bundesregierung will eine Beschwerde gegen das Urteil. Wie denken Sie darüber?

Sie will es prüfen. Ich rate von einer Beschwerde ab. Deutschland hat die Menschenrechtskonvention unterzeichnet, wir sollten uns auf Urteile des Gerichts einlassen und uns nicht dagegen auflehnen.

Losgelöst von dem Einzelfall – wie soll die Politik regieren?

Der Gerichtshof hat den Vollzug der Verwahrung in Deutschland kritisiert. Das ist zunächst mal eine Rüge für die Länder, die dafür zuständig sind. Sie sollten jetzt eigene Vollzugsgesetze erlassen. Wichtig ist, dass die Betroffenen endlich psychologisch betreut werden. Es muss deutlich werden, dass die Verwahrung keine Strafhaft ist. Die Leute müssen praktisch ein normales Leben führen können – bis auf den Freiheitsentzug.

Die Regierung will die Regeln harmonisieren und Schutzlücken schließen.

Wenn ich das höre, gehen bei mir alle Warnlampen an. Natürlich müssen wir grundlegend reformieren: Die ständig steigende Zahl Verwahrter muss wieder abnehmen. Sie steht außer Verhältnis zur tatsächlichen Bedrohung. Es gibt immer weniger schlimme Sexualverbrechen oder Kindstötungen, die Höchstzahlen hatten wir in den fünfziger Jahren. Die Deutschen werden im Durchschnitt immer älter, auch das spielt eine Rolle. Trotzdem wurde die Verwahrung in den vergangenen zwölf Jahren sechs Mal verschärft. Man kann nicht alle Risiken ausschließen. Es gibt keine absolute Sicherheit, also kann es auch keine Schutzlücken geben. Die Politik muss das erklären und den Leuten ihre Ängste nehmen.

Wie soll das gehen, wenn plötzlich Täter auf freien Fuß kommen, die als erwiesen hochgefährlich gelten?

Der Staat ist nicht hilflos. Es gibt das Instrument der Führungsaufsicht. Man kann Tätern ein engmaschiges Netz an Auflagen knüpfen. Man kann ihnen einen Wohnsitz zuweisen, eine Arbeit in bestimmten Betrieben oder dass sie gewisse Orte meiden müssen oder zu gewissen Menschen keinen Kontakt aufnehmen dürfen. Man kann sie sogar beobachten, wenn es nötig ist. Es darf aus rechtsstaatlichen Gründen nur keine Dauerüberwachung geben.

Ihre Partei hat viele Verschärfungen mitgetragen, die Sie jetzt kritisieren. Warum?

Die SPD wollte diese Verschärfungen unbedingt, und wir waren der kleinere Koalitionspartner. Deshalb haben wir uns darauf verlegt, sie grundrechtskonform auszugestalten. Dass die Prognosen zur Gefährlichkeit immer von zwei unabhängigen Experten gegeben werden, die sonst nicht in dem jeweiligen Gefängnis arbeiten, war unsere Idee. Wir haben auch immer die Ansicht vertreten, dass es Sache der Länder ist, die Anordnung der Sicherungsverwahrung zu regeln. Aber das Verfassungsgericht hat diese Aufgabe dem Bund zugewiesen. Damit war uns ein wichtiges Argument aus der Hand genommen, Verschärfungen abzuwehren.

Jerzy Montag ist rechtspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Das Gespräch führte Jost Müller-Neuhof.

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