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Hans-Dietrich Genscher: Vom Leben belohnt

Hans-Dietrich Genscher erhält die Urania-Medaille für seine Verdienste um die deutsche und europäische Einigung. Michail Gorbatschow hält die Laudatio. Zeit für Privates bleibt beim Wiedersehen der alten Weggefährten kaum.

„Nur gucken, nicht anfassen.“ Hans-Dietrich Genscher lacht, er freut sich über die spontane Anleihe beim Werbefernsehen und das, was noch kommt. Es ist kurz vor sieben, als er zum ersten Mal einen Blick auf die Urania-Medaille wirft. Neben ihm steht Michail Gorbatschow, er wird später die Laudatio halten, bevor Genscher den Silbertaler für seine Verdienste um die Einheit Deutschlands und Europas in Besitz nehmen darf. Vorher aber wollen die Fotografen ein Bild. „Lächeln!“ „Enger zusammen!“ „Weiter nach links!“ Kommandos hallen zwischen den Blitzlichtern, und Gorbatschow fragt ein wenig überrascht, wer denn die „vielen Häuptlinge“ hinter den Teleobjektiven sind.

Nein, es gibt keinen privaten Augenblick beim Wiedersehen der alten Weggefährten. Bevor es in den großen Humboldt-Saal der Berliner Urania geht, stecken sie kurz die Köpfe zusammen. „Gyula Horn geht es schlecht“, sagt Genscher und hebt die Arme. Der ungarische Ex-Außenminister, der vor 20 Jahren die Grenze nach Österreich öffnete, liegt in einem Budapester Militärkrankenhaus. Gorbatschow geht es gut, er hat ein bisschen zugelegt, auf der Straße würde man ihn nicht sofort erkennen als den Mann, der 1989 die Welt in Atem hielt. Er erinnert ein wenig an Marcel Reich-Ranicki.

Er ist gerade 78 geworden und Urgroßvater, aber als Vortragsreisender ist er immer noch begehrt. Auch Klaus Wowereit verneigt sich vor dem einstigen Generalsekretär der KPdSU. Der Regierende Bürgermeister hält eine kurze Rede, ein bisschen Referenten-Prosa über den Herbst ’89, angereichert mit persönlichen Erinnerungen über einen Abend beim Chinesen, als gerade die Mauer fiel. Der Abend plätschert vor sich hin, die Stimmung ist heiter, aber keineswegs von historischer Tiefe geprägt.

Ein paar Minuten später ist alles anders. Es wird dunkel im Saal, auf der Leinwand laufen Bilder aus einer Zeit, die unendlich weit weg scheint. Die Schneisen, die die Mauer durch Berlin zog. Die Demonstranten, die durch Ost-Berlin ziehen und „Wir sind das Volk“ rufen. Die entscheidenden Sekunden auf der Bornholmer Brücke, die Grenzöffnung, der Jubel. Alles tausendmal gesehen, aber höchst wirkungsvoll arrangiert. Und auf einmal ist sie da, die Atmosphäre jener Wochen, als die Berliner BVG-Busse beklatschten, wenn sie Reklame für „Wodka Gorbatschow“ fuhren.

Michail Gorbatschow betritt die Bühne, der Applaus hebt an, unaufgefordert erheben sich die Zuschauer von ihren Plätzen. Gorbatschow bedankt sich und erzählt eine Geschichte aus seiner Kindheit. Von einem Besuch mit dem Vater in einem Nachbardorf, bewohnt von Wolgadeutschen. Der kleine Michail Sergejewitsch durfte in der Backstube naschen, und „seitdem waren die Deutschen für mich immer ein Volk von Menschen, die wunderbare Pfefferkuchen buken“. Er ist unerwartet witzig, ein guter Laudator.

Gorbatschow findet nette, aber nicht zu pathetische Worte für Genscher, „einen herausragenden Intellektuellen und zuverlässigen Partner, einen Politiker von Weltrang“. Dazu rühmt er Brandts Ostpolitik, Kohls Weitsicht, „und wenn die Russen 1989 nicht eine so hohe Meinung von den Deutschen gehabt hätten, dann hätte auch ein Politiker Gorbatschow nichts ausrichten können“. Nach 24 Minuten verabschiedet er sich auf Deutsch, „vielen Dank!“, und gibt die Bühne frei. Das Wort hat Hans-Dietrich Genscher. In zwei Wochen wird er 82, aber reden kann er immer noch wie früher. Seine Tour d’horizon beginnt und endet in Berlin, zwischendurch rechnet er mit der „gescheiterten neo-konservativen Politik in den USA“ ab, beklagt globale Regellosigkeit und preist die deutsch-russischen Beziehungen. Genschers Schlusswort ist eine rhetorische Verbeugung vor seinem Laudator: „Wer die Zeichen der Zeit erkennt, den belohnt das Leben.“

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