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Politik: „Hier wird die Toleranz auf die Probe gestellt“

Der frühere Brüsseler Kommissionschef Jacques Delors über britische EU-Gegner und deutsche Ambitionen

Herr Delors, sind Sie für oder gegen eine Aufnahme der Türkei in die EU?

Ich will nicht zu denen gehören, die von vornherein dekretieren, dass die Antwort an die Türkei „Nein“ lauten muss.

Welche Begründung liefern Sie den Bürgern der Europäischen Union, um sie von den Vorteilen eines türkischen Beitritts zu überzeugen?

Manchmal muss Europa auf unvorhergesehene historische Herausforderungen antworten. Wer hätte zum Beispiel seinerzeit gedacht, dass der Kommunismus so schnell in sich zusammenfallen würde? Heute wiederum sind wir in einer sehr bedrohlichen Lage, zu der auch die Vermengung von Religion und Politik beigetragen hat. Wenn also morgen eine offene Haltung der Europäischen Union gegenüber der Türkei dazu beiträgt, gegen den Zusammenprall der Zivilisationen und die Zunahme des Fundamentalismus zu kämpfen, dann müssen wir entsprechend handeln. Wir müssen Wege finden, die Türkei nicht zurückzuweisen.

Würde eine EU-Mitgliedschaft der Türkei aber nicht die Vertiefung der Europäischen Union erschweren?

Seit wir Großbritannien aufgenommen haben, verläuft die Vertiefung der EU ohnehin langsamer. Der Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft im Jahr 1973 hatte mehr Vor- als Nachteile. Aber seither wissen wir doch auch, dass sich Großbritannien stets einer politischen Vereinigung Europas widersetzt hat – manchmal mit Brutalität, manchmal mit Finesse, wie das derzeit der Fall ist. Wir dürfen bei der Vertiefungs-Diskussion heute doch nicht die Maßstäbe von gestern anlegen.

Blicken wir also auf die EU von morgen. Es gibt nicht nur in Großbritannien Widerstand gegen einen engeren politischen Zusammenschluss in Europa. So lehnt beispielsweise Ihr sozialistischer Parteikollege, der ehemalige französische Premierminister Laurent Fabius, den Text der künftigen europäischen Verfassung ab. Die Verfassung soll den Franzosen im kommenden Jahr bei einem Referendum vorgelegt werden.

Der europäische Verfassungsvertrag legt die künftigen Spielregeln für das Zusammenleben in Europa fest – und zwar sehr viel besser als der gegenwärtige Vertrag von Nizza. Es wäre ein Drama, wenn Frankreich diesen Vertrag ablehnen würde, weil es allem widersprechen würde, was das Land als Gründungsmitglied der heutigen Europäischen Union seit einem halben Jahrhundert für Europa geleistet hat. Ein „Nein“ Frankreichs zur EU-Verfassung würde Europa in eine Krise stürzen.

Sie haben, wie Sie in Ihrem soeben erschienenen Buch „Erinnerungen eines Europäers“ am Rande erwähnen, den Zweiten Weltkrieg in jungen Jahren noch miterlebt. Was bedeutet es für Sie, heute in Berlin das offene Brandenburger Tor zu sehen, das bis vor 15 Jahren Symbol der deutschen Teilung war?

Ich bin glücklich, hier in Berlin zu sein und diese wiedervereinte, dynamische Stadt zu erleben. Wie Sie wissen, war ich 1989 zur Überraschung vieler Zeitgenossen einer der ersten Politiker, die erkannten, dass sich die Ostdeutschen entschieden hatten und wir ihnen helfen mussten.

Hat sich seither die deutsche Europapolitik geändert? Helmut Kohl achtete immer darauf, auch Rücksicht auf die kleinen europäischen Länder zu nehmen, sein Nachfolger Gerhard Schröder setzt sehr viel stärker auf die Zusammenarbeit mit den großen Nationen Frankreich und Großbritannien.

Das ist eine schwierige Frage. Wenn ich der Vertreter eines kleinen Landes wäre, etwa der Tschechischen Republik, würde mich die enge Kooperation Berlins mit Paris und London nicht beunruhigen. Ich bin aber auch der Meinung, dass die Zusammenarbeit der „großen drei“ noch nicht zu sehr konkreten Ergebnissen geführt hat. Leider hat der Einfluss Frankreichs und Deutschlands innerhalb der EU in den letzten Jahren abgenommen. Ich wünsche mir, dass diese beiden Länder zu einer positiven und dynamischen Einflussnahme zurückfinden, die eine Vision für die Zukunft Europas beinhaltet.

Zu dem neuen Stil der deutschen Außenpolitik gehört auch die Tatsache, dass die Bundesregierung einen ständigen Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen anstrebt. Hielten Sie es für besser, wenn Berlin im Gegenteil an der Idee eines gemeinsamen europäischen Sitzes festhielte?

Deutschland hatte zur Zeit des Zerfalls des Kommunismus keinen ständigen Sitz im Sicherheitsrat. Es hat aber in diesem historischen Prozess eine sehr bedeutende Rolle gespielt, ohne in den Vereinten Nationen eine seinem Einfluss entsprechende Stellung einzunehmen. Ich halte es für verständlich, dass Mächte wie Deutschland und andere große Länder einen ständigen Sitz anstreben. Es wäre ein Fehler, wenn Europa nur einen gemeinsamen Sitz im Sicherheitsrat beanspruchen würde.

Die drei Sitze von Frankreich, Großbritannien und möglicherweise Deutschland würden der EU also weltweit mehr Einflussmöglichkeiten geben als ein gemeinsamer europäischer Sitz?

So ist es. Eine solche Entwicklung wäre von großem Vorteil für die Durchsetzungskraft der Europäischen Union. Wenn Europa im Sicherheitsrat nur mit einem ständigen Sitz vertreten wäre, würde sein Einfluss geschmälert.

Es gibt in Paris gewichtige Stimmen, die sagen, mit der Konferenz von Nizza Ende 2000 sei im deutsch-französischen Verhältnis ein Bruch eingetreten.

Nein, dieser Meinung bin ich überhaupt nicht. Zwar habe ich bei den Treffen von Jacques Chirac und Gerhard Schröder nicht unter dem Tisch gesessen und mitgehört. Aber der deutsche Kanzler und der französische Präsident verstehen sich persönlich gut, ich sehe keinen Bruch im deutsch-französischen Verhältnis. Ich habe einen ganz anderen Wunsch. Ich will, dass die junge Generation eine Anstrengung unternimmt, wie sie meine Generation unternommen hat, um die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich noch weiter voranzubringen. Wenn Sie auf die Geschichte dieser beider Länder sehen, die sich gegenseitig so viel angetan haben, merken Sie: Die deutsch-französischen Beziehungen sind ein Wert an sich. Das ist eine ganz andere Frage als die gemeinsame Durchsetzung von Interessen in der europäischen Konstruktion.

Unter den künftigen EU-Kommissaren im Team des neuen EU-Kommissionschefs José Manuel Barroso ist vor allem der Italiener Rocco Buttiglione umstritten. Einige Abgeordnete des Europäischen Parlaments wollen, dass er ein anderes Ressort bekommen soll. Wird Buttiglione zu Recht kritisiert?

Die künftige Kommission muss sich dem Europaparlament als Kollegium präsentieren. Deshalb geht es auch nicht darum, dass das Parlament einzelnen Kommissaren die Zustimmung gibt und anderen verweigert. Die französische Nationalversammlung stimmt doch auch nicht über einzelne Minister ab. Das würde völlig dem Mannschaftsgeist eines Kabinetts widersprechen. Herr Barroso wird also die Kommission als Ganzes präsentieren und dabei auf die Beurteilungen des Europaparlaments eingehen – und das ist es dann auch.

Ist der Streit um die persönliche Haltung einzelner designierter Kommissare das richtige Thema für das Europäische Parlament, um seinen Einfluss geltend zu machen?

Die Schuld an dieser Zuspitzung der Machtprobe zwischen dem Europaparlament und der Kommission tragen alle, die sich für Provokationen hergeben – auf beiden Seiten. Hier wird sozusagen die menschliche Toleranz auf die Probe gestellt. Wir sollten uns aber nicht von einem derartigen Weltanschauungs-Streit von den Fragen ablenken lassen, die für Europa wirklich entscheidend sind.

Das Gespräch führten Christoph von Marschall, Albrecht Meier und Hans Monath. Das Foto machte Mike Wolff.

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