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Niedersachsen, November 2010. Eine Lehrstunde der besonderen Art organisierten deutsche Polizisten für Milizoffiziere aus Minsk: Die Gäste durften den Einsatz beim Castor-Transport beobachten.

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Exklusiv

Politik: Hilfe für Weißrussland: Miliz aus Minsk informierte sich über Videoüberwachung und Wasserwerfer

Über Seminare deutscher Polizisten für weißrussische Milizoffiziere hatte der Tagesspiegel im August 2012 berichtet. Weitere Recherchen zeigen nun, dass Einsätze bei politischen Demonstrationen eine größere Rolle spielten als bisher bekannt.

Irgendwann lag sie auf dem kalten Betonboden. Der Milizoffizier hielt ihr seinen Stiefel vor das Gesicht und sagte, er werde zutreten. Immer wieder hatte der Mann sie geschlagen. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Die richtige Angst kam erst, als er ihr grinsend erzählte, auf welche Weise er sie vergewaltigen würde.

Mit leiser Stimme berichtet die weißrussische Bürgerrechtlerin Olga Karatch bei einem Besuch in Berlin von jener Nacht im April 2011. Die Leiterin der Bürgerrechtsorganisation „Nasch dom“ (Unser Haus) war gemeinsam mit Mitstreiterinnen während eines Workshops in Minsk festgenommen worden. Die Stimmung war angespannt, keine zwei Wochen zuvor hatte ein Terroranschlag die Hauptstadt erschüttert. Die Bürgerrechtler glaubten, dass die Staatsmacht nun versuchen würde, jemandem die Schuld dafür zu geben.

Olga Karatch hatte noch einmal Glück. Nach zwei Tagen und einer Nacht kam sie wieder frei. Der Milizoffizier hatte seine Drohung nicht wahr gemacht. Um die Festnahme juristisch zu rechtfertigen, behaupteten die Milizionäre, die Bürgerrechtlerin habe acht von ihnen geschlagen. Darüber muss die schmale blonde Frau heute beinahe lachen.

Nach ihrer Freilassung hat Olga Karatch angefangen, Informationen über den Mann zu sammeln, der sie geschlagen, sexuell belästigt und massiv bedroht hat. Er war stellvertretender Leiter des Reviers im Minsker Bezirk Frunsensk. Die Milizionäre dieses Reviers seien berüchtigt dafür, dass sie besonders brutal gegen Oppositionelle vorgingen, sagt die Bürgerrechtlerin. Andere Frauen hatten auf den Revieren der Miliz Ähnliches erlebt wie Olga Karatch. Aus diesen Gesprächen entstand später ein Projekt über Polizeigewalt gegen Frauen.

Minsk, im Oktober 2010. Keine zwei Monate vor den Präsidentenwahlen in Weißrussland findet in der Hauptstadt ein Seminar für Führungskräfte der Miliz statt. Aus Deutschland sind drei Mitarbeiter der Bereitschaftspolizei Sachsen gekommen, um die Milizoffiziere zu schulen. Einer der Teilnehmer ist stellvertretender Leiter des Reviers Frunsensk. Das geht aus Akten des Bundesinnenministeriums (BMI) hervor, die die Behörde dem Tagesspiegel nach dem Informationsfreiheitsgesetz zur Verfügung stellen musste. Ob es derselbe Mann war, der Olga Karatch geschlagen hat, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit feststellen, weil das Bundesinnenministerium „personenbezogene Daten Dritter“, auch die Namen aller Milizoffiziere, vor Herausgabe der Akten geschwärzt hat.

Weißrussische Bürgerrechtler sehen die Ausbildungshilfe kritisch. „Ich verstehe die Logik der deutschen Regierung, die versucht, mit diesen Leuten zu reden“, sagt Olga Karatch. Aber in einer Diktatur wie Belarus funktioniere das nicht. „Alle Methoden, die das Regime im Westen lernt, verwendet es gegen die eigenen Leute, gegen die Opposition, unabhängige Journalisten und die Zivilgesellschaft.“

Über die Seminare für weißrussische Milizoffiziere hatte der Tagesspiegel im August 2012 berichtet. Im Rahmen des Projekts hatten in den Jahren 2009 und 2010 sechs Schulungen in Deutschland und vier in Weißrussland stattgefunden. Die Dokumente zeigen nun, dass die beiden wichtigsten Ansprechpartner der Deutschen bei der Planung und Organisation der Ausbildungshilfe, später, im Dezember 2010, für die Niederschlagung der Proteste nach der Wahl verantwortlich waren: Innenminister Anatoli Kuleschow und sein Stellvertreter Jewgeni Poluden, zugleich Chef der Miliz. Beide haben heute in der EU Einreiseverbot. Das Innenministerium und der KGB seien „Hauptinstrumente der Repression“, warnte das Auswärtige Amt im Februar 2011 in einem Schreiben an das BMI und begründete damit, warum die Ausbildungshilfe für die Miliz nun auf Eis gelegt werden sollte. Der Innenminister habe sich kurz nach den Wahlen sogar damit gebrüstet, dass er bei den Gewaltmaßnahmen gegen die Demonstranten „die volle Kommandogewalt“ gehabt hätte.

Die Deutschen sahen keine großen Unterschiede in der Arbeit

Niedersachsen, November 2010. Eine Lehrstunde der besonderen Art organisierten deutsche Polizisten für Milizoffiziere aus Minsk: Die Gäste durften den Einsatz beim Castor-Transport beobachten.
Niedersachsen, November 2010. Eine Lehrstunde der besonderen Art organisierten deutsche Polizisten für Milizoffiziere aus Minsk: Die Gäste durften den Einsatz beim Castor-Transport beobachten.

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Nach dem Bekanntwerden der Ausbildungshilfe betonte die Bundesregierung, es sei in erster Linie um die polizeiliche Begleitung von Großereignissen wie etwa Sportveranstaltungen gegangen. Weißrussland soll 2014 die Eishockey-Weltmeisterschaft ausrichten. Doch tatsächlich spielte der Umgang mit politischen Demonstrationen eine größere Rolle, als die Regierung bisher zugab. So beschäftigte sich der damalige Inspekteur der Bereitschaftspolizeien der Länder und heutige Vizepräsident der Bundespolizei, Jürgen Schubert, in einem Vortrag in Minsk offenbar ausführlicher mit dem sogenannten „Lagefeld Links“ als mit Fragen der Sicherung von Fußballspielen.

Die sächsische Delegation stellte bei ihrem Besuch in Minsk im Oktober 2010 fest, dass die weißrussischen Kollegen für Einsätze bei Sportveranstaltungen „kaum Unterstützung“ benötigten. Nach der Rückkehr berichtete ein Abteilungsleiter der sächsischen Bereitschaftspolizei an das BMI: „Mit großem Interesse wurden Darlegungen zu Kontrollbereichen, Vorkontrollen am Antreteplatz, Begleitung und Einwirkung auf einen „Schwarzen Block“ sowie Auflösung von Ansammlungen/Versammlungen entgegengenommen. Das Versammlungsrecht unterscheidet sich in beiden Ländern aber anscheinend erheblich. Großes Interesse bestand auch an der Arbeit einer GESA Gefangenensammelstelle, Anm. d. Red.].“

Die Seminare sollten der „Heranführung der Miliz an EU-Standards am Beispiel der deutschen Polizei“ dienen. Doch aus den Akten ist nicht ersichtlich, dass die Deutschen ihr Seminarprogramm angesichts der fehlenden Rechtsstaatlichkeit in Weißrussland und der immer wieder vorkommenden Übergriffe der Polizei auf Demonstranten der besonderen Situation angepasst hätten.

Nach dem Seminar in Minsk kommt der Leiter der sächsischen Delegation vielmehr zu dem Schluss, dass die dortige Polizeiarbeit sich gar nicht so sehr von der deutschen unterscheidet: „Inhaltlich gab es kaum Unterschiede, und wenn doch, dann waren sie in der zentralstaatlichen Führung der Polizei, in der immer noch stark militärisch geprägten Ausbildung der Offiziere und in einem anderen Rechtsverständnis bei Persönlichkeitsrechten sowie im Datenschutz zu finden.“ Auch Vize-Innenminister Poluden schrieb nach seinem Besuch in Niedersachsen 2009 zufrieden an die Deutschen: „Unsere gemeinsame Arbeit demonstrierte übereinstimmende Ansichten zu den meisten besprochenen Themen.“

In Deutschland beobachteten die Weißrussen nicht nur Polizeieinsätze bei einem Oberliga-Fußballspiel in Sachsen oder bei der Eishockey-Weltmeisterschaft, sondern auch mehrere Einsätze bei politischen Kundgebungen: einer Demonstration der NPD in Hannover, einer Studentendemonstration in Leipzig und dem Nazi-Aufmarsch in Dresden am Jahrestag der Bombardierung der Stadt im Februar 2010. Im Juli 2010 bat Poluden darum, „an einer Einsatzbeobachtung während einer Massenveranstaltung in Sachsen im Oktober oder November“ teilnehmen zu können.

Den Wunsch erfüllten die Deutschen prompt: Im November fuhren drei Milizoffiziere mit einer Abteilung der sächsischen Bereitschaftspolizei nach Niedersachsen und beobachteten den Einsatz beim Castor-Transport, einen der umstrittensten deutschen Polizeieinsätze.

"Drei Beamte können zeitgleich das Feuer eröffnen"

Niedersachsen, November 2010. Eine Lehrstunde der besonderen Art organisierten deutsche Polizisten für Milizoffiziere aus Minsk: Die Gäste durften den Einsatz beim Castor-Transport beobachten.
Niedersachsen, November 2010. Eine Lehrstunde der besonderen Art organisierten deutsche Polizisten für Milizoffiziere aus Minsk: Die Gäste durften den Einsatz beim Castor-Transport beobachten.

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Bei ihren Reisen nach Deutschland lernten die Gäste aus Weißrussland einiges, was sie für ihre Arbeit übernehmen wollten. Besonders die Videoaufzeichnungen, die deutsche Polizisten bei Demonstrationen machen, erschienen ihnen nachahmenswert. Die Milizoffiziere berichteten an das Innenministerium in Minsk, dass in jeder Polizeieinheit ein Beamter mit einer Videokamera ausgestattet sei, dass auch ein Polizeihubschrauber „Störungen der öffentlichen Sicherheit“ filme und die Aufnahmen später vor Gericht verwendet werden könnten. Mit großem Interesse verfolgten die Gäste auch die Arbeit von Anti-Konflikt-Teams und von szenekundigen Beamten. Letztere sammelten Informationen „über alle Fußballfans der Stadt Leipzig“, heißt es in einem Bericht der Seminarteilnehmer.

Besonders beeindruckt waren die Gäste von den Wasserwerfern, die sich von denen der Minsker Miliz deutlich unterschieden. Sie würden eingesetzt, „wenn die Situation ganz außer Kontrolle gerät“. Die Milizoffiziere beschreiben in ihrem Bericht ausführlich die Funktionsweise der Wasserwerfer. „Man hat auch die Option des Beimischens von CN/CS-Gas Reizgas, Anm. d. Red.] oder verschiedenen Farben. Das hat den Zweck, dass man die Störer farblich markieren kann, um (sie) im weiteren Verlauf (zu) ergreifen.“

Interessant sind für die weißrussischen Milizionäre auch gepanzerte Polizeifahrzeuge, mit denen man beispielsweise Barrikaden beseitigen kann. „Drei Beamte der Besatzung haben gleichzeitig die Möglichkeit, aus speziellen Öffnungen das Feuer zu eröffnen“, schreiben die Teilnehmer nach ihrem Besuch in Sachsen im November 2009 begeistert.

Innenminister Kuleschow zog im Dezember 2009 eine positive Zwischenbilanz der Zusammenarbeit. „Die erworbenen Erfahrungen werden zweifellos zur Optimierung der Tätigkeit der Miliz für öffentliche Sicherheit des belarussischen Innenministeriums beitragen.“

Ein Jahr später ließ Kuleschow die Demonstration nach der Präsidentenwahl von der Miliz gewaltsam niederschlagen.

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