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Eine Frau in Kabul mit Brot aus einer Hilfslieferung. (Archivbild vom 18 Januar 2022)

© AFP/Wakil Kohsar

Hungerkrise in Afghanistan: „Die Lage der Menschen ist unerträglich hart“

In Afghanistan leiden die Menschen mehr denn je unter Hunger. Ein Gespräch mit Martin Frick, Deutschland-Chef des Welternährungsprogramms.

Herr Frick, vor einem Jahr kehrten die Taliban in Afghanistan zurück an die Macht. Schon davor lebten viele Menschen in Armut, litten unter Hunger. Wie steht es heute um die Bevölkerung im Land?
Die Situation hat sich erheblich verschlechtert. Die Lage der meisten Menschen im Land ist unerträglich hart, vor allem für die Menschen in den Provinzen. Fast die Hälfte der Bevölkerung ist von akutem Hunger bedroht. Fast sechs Millionen der 38 Millionen Einwohner befinden sich kurz vor einer Hungersnot. Die Not der Menschen ist so groß, dass viele ganze Hausstände oder für die Arbeit wichtige Werkzeuge – schlicht ihre Lebensgrundlagen – verkaufen, um Nahrung zu erwerben. 90 Prozent der Haushaltseinkommen werden für Lebensmittel ausgegeben. Das Welternährungsprogramm erreicht immerhin über 50 Prozent der Bevölkerung. 

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Vor allem Frauen und Kinder werden in der Krise am stärksten leiden.
Das ist korrekt. Sie sind es, die versuchen müssen, ihre Familien zu ernähren. Gleichzeitig hat sich die Situation der Frauen und Mädchen enorm verschärft. Wenn Mädchen von der Schule ausgeschlossen werden, Frauen nicht reisen können, alleine zuhause bleiben, ist das ein Notstand für sich – und ein wesentlicher Teil der wirtschaftlich desaströsen Situation. Wer die eine Hälfte der Bevölkerung von gesellschaftlichen Leben ausschließt, kann keinen Erfolg haben. 

Wie viel Taliban-Regime steckt in der Krise?
Die Krise hat viele Treiber. Und Afghanistan ist das Brennglas für alle Krisen, die derzeit weltweit zu Problemen führen. Der lang anhaltende Konflikt ist ein wesentlicher Faktor. Vier Jahrzehnte des Konflikts haben natürlich ihre Spuren hinterlassen. Dazu kommen Jahre extremer Dürre, die die Lebensgrundlager von Millionen Menschen zunichte gemacht haben. Auch auf die Pandemie war das Land schlecht vorbereitet – sie führte zu einer Wirtschaftskrise. Man muss aber sagen: Die Krise hat sich auch durch die Machtübernahme der Taliban verschärft – und die chaotischen Zustände, die ihr folgten. 

Martin Frick ist Direktor des WFP-Büros für Deutschland, Österreich und Liechtenstein.

© Foto: WFP

Nun kommen die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine hinzu.
Und das auf zweifache Weise. Der Krieg hat die Lebensmittelpreise weltweit in die Höhe schießen lassen. Für die Menschen in Afghanistan ist das Getreide kaum noch zu bezahlen. Und was uns zu schaffen macht und was die Kosten unserer Arbeit enorm verteuert, sind die Spritpreise. Seit Jahresbeginn geben wir pro Monat rund 33 Millionen US-Dollar mehr für Treibstoff, Transport und Nahrungsmittel aus, um die Menschen in den Provinzen zu versorgen. 

[Lesen Sie auch: Brutales Terrorregime und Hungerkrise: Muss der Westen mit den Taliban kooperieren? (T+)]

Wirtschaftskrisen, Dürren, Erdbeben, ein brutales Regime: Wird das Leid der Menschen zu einer größeren Fluchtbewegung führen?
Ob in den Bürgerkriegsländer Jemen und Syrien oder in Afghanistan: Die erste Stufe ist immer die Flucht im eigenen Land, oft aus der Not heraus als Bewegung in die Städte.  Flucht ist keine freiwillige Entscheidung, sondern etwas, wozu Menschen durch Elend getrieben werden. Eine Bewegung über die Landesgrenze hinaus erwarten wir aber derzeit nicht. Aus Syrien wissen wir, dass frühzeitige Unterstützung und Hilfe mit Nahrungsmitteln Flucht tatsächlich verhindert. 

Doch wie kommt man aus dieser Hungerkrise hinaus?
Mittel- und langfristig gibt es keine Alternative dazu, Perspektiven im Land zu schaffen sowie die Wirtschaft, das Finanz- und das Bankenwesen wieder aufzubauen. Es braucht einen funktionierenden Staat, weil man auf Dauer nicht diese große Anzahl von Menschen aus dem Ausland ernähren kann. Man kann Rückschlüsse aus anderen unterentwickelten Ländern ziehen: Ernährungssicherheit hängt stark von kleinbäuerlichen Betrieben ab. Wir müssen diese Landwirte unterstützen und ihnen Strategien an die Hand geben, wie sie mit wenig Wasser auskommen und Regenwasser speichern. So lassen sich Böden verbessern und Fruchtformen anbauen. Denn: Afghanistan muss kein armes Land sein. 

En Mann verteilt Brot an einer Backerei in Kabul.

© dpa/AP/Petros Giannakouris

Es wird also ein Entwicklungsprogramm brauchen.
Wenn es überall auf der Welt brennt, lässt sich oft nur die Not lindern. Wir rennen den Krisen hinterher. Heute gibt es doppelt so viele Krisen wie vor 10 Jahren. Dort müssen wir mit Entwicklungsperspektiven herauskommen. Es wird ein Entwicklungsprogramm für Afghanistan brauchen, um dort mit finanziellen Mitteln nicht nur die akute Not zu lindern. Es geht aber – gerade in Afghanistan – nur zu Grundbedingungen der Kooperation. Und das bedeutet insbesondere die Einhaltung von Menschenrechten durch die Taliban und eine gleichberechtigte Teilhabe der Frauen am gesellschaftlichen Leben. 

Und doch können Sie derzeit nicht alle Menschen erreichen. Welche Mittel wird das WFP zeitnah brauchen, um die Hilfen auszubauen?
Bis Jahresende werden wir voraussichtlich 960 Millionen US-Dollar benötigen, um vor allem in den unzugänglichen Provinzen eine Hungersnot verhindern zu können. akut brauchen wir 172 Millionen US-Dollar, um 150.000 Tonnen Nahrungsmittel einzukaufen und vor dem Winter in die Provinzen zu bringen, solange die Transportwege noch offen sind. Damit könnten wir dann über fünf Monate noch einmal zusätzlich 2,2 Millionen Menschen unterstützen. 

Inwieweit sind Sie derzeit auf die Zusammenarbeit mit den Taliban angewiesen – und erfolgt irgendeine Art von Kontrolle?
Das Welternährungsprogramm ist ja seit den 1960er Jahren aktiv. Wir haben große Erfahrung darin, zu evaluieren, wer Hilfe benötigt und die Hilfe an die Bedürftigen auch zu verteilen – ausschließlich nach humanitären Gesichtspunkten. Das wird von den Taliban auch respektiert – denn zu unserer Hilfe gibt es keine Alternative. Ich denke, die Taliban haben verstanden, dass sie uns nicht als politisches Werkzeug verwenden können. 

Gibt es etwas, das Ihnen Hoffnung macht?
Das Leid in Afghanistan ist sehr groß. Und auch wenn die Taliban von Teilen der Bevölkerung getragen werden: Ich hoffe auf einen Willen der Menschen zur Reform, zur Öffnung und insbesondere auf eine Entwicklung, die die Lage der Frauen und Mädchen verbessert. Ohne die Frauen wird sich das Land sicher nicht entwickeln, nicht einmal wirtschaftlich.

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