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Klare Ansagen in der Flüchtlingspolitik: Bundeskanzlerin Angela Merkel.

© Hannibal Haschke/Reuters

Die Basta-Kanzlerin: In der Flüchtlingspolitik zaudert Angela Merkel nicht

Wer will einer Regierungschefin widersprechen, die offensiv für Menschlichkeit einsteht? In der Flüchtlingspolitik agiert Angela Merkel ganz anders als bisher: entschlossen.

Von Antje Sirleschtov

Über Angela Merkels Art zu führen ist viel gesagt worden, nicht sehr Schmeichelhaftes zumeist: pragmatisch abwägend und taktisch abwartend sei sie. Wie zutreffend solche Beschreibungen auch immer waren: Nun, in der Flüchtlingskrise, zeigt sich eine Kanzlerin, die weder zaudert noch taktiert.

Im Gegenteil: Mit der Entscheidung, über Nacht die Grenzen Deutschlands für alle Flüchtlinge zu öffnen, die in großer Zahl auf Straßen und in Zügen in Ungarn und Österreich unterwegs waren, ist Merkel entschlossen ein hohes Risiko eingegangen. Allen voran hat CSU-Chef Horst Seehofer ihre Entscheidung als Fehler benannt und gedroht, das werde weitreichende Folgen haben. Auch in ihrer eigenen Partei wird Merkel seither vorgeworfen, sie habe die Sogwirkung unterschätzt, die eine solche Öffnung auf noch mehr Flüchtlinge ausüben würde – und schlimmer noch: Die Kanzlerin unterschätze die Gefahr, dass die deutsche Gesellschaft, die nicht vorbereitet sei auf die Integration einer solch großen Menge von Menschen, von den Folgen des Zustroms zerrissen werde. Zum Beweis führten die CDU-Kritiker ihr zahllose Briefe und Mails vor, in denen Bürgermeister und Amtsträger in Landkreisen und Kommunen ein Bild der Überforderung oder zumindest die Sorge davor zeichneten.

Und nicht zuletzt wurde der CDU-Vorsitzenden die Reserviertheit ihrer Parteianhänger gegenüber großen gesellschaftlichen Experimenten vor Augen geführt – und dazu die folgenreichen negativen Auswirkungen auf Wahlergebnisse für jeden, der aus der konservativen Union über Nacht eine Vorreiterin in Sachen Liberalität und Weltoffenheit machen will.

Das alles hat Angela Merkel offenbar nicht zum Einlenken oder zur Umkehr bewogen. „Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land“, sagte sie am Dienstag. So emotional der Satz klingt, so überlegt wird er gesagt worden sein. Es fehlte eigentlich nur noch ein „Basta“, mit dem ihr Vorgänger Gerhard Schröder einst seine Entschlossenheit zu dokumentieren pflegte.

In den christlichen Parteien jedenfalls wurde die Botschaft verstanden als klares Bekenntnis: Diese Kanzlerin besinnt sich in einer humanitären Notlage auf ihre christlichen Werte und will Verantwortung übernehmen. Unmissverständlich hat sie klar gemacht, dass sie Deutschland in der wirtschaftlichen Lage sieht, die Folgen der Flüchtlingskrise zu tragen und zu bewältigen. Und dass sie ihren Kurs fortsetzen will. Auch gegen massive Widerstände in den eigenen Reihen. Das hat gewirkt: Wo tagelang zuvor ein vielstimmiger Chor der Merkel-Kritiker Warnungen und Bedenken auf allen medialen Kanälen vortrug, herrschte am Mittwoch beachtliche Zurückhaltung.

Merkel will es nach zehn Jahren Kanzlerschaft wissen. Ihr Kalkül mag dabei sowohl eine europäische als auch eine nationale Dimension haben. Am Ende modernisiert sie damit auch noch die CDU und öffnet ihr weitere politische Möglichkeiten. Mit ihrem uneingeschränkten Bekenntnis zu Solidarität und Menschlichkeit – auch unter Missachtung geltenden Rechts, nämlich den Dublin-Regeln zur Registrierung von Flüchtlingen – dokumentiert sie zunächst moralische Integrität, die ihr Unterstützung der Öffentlichkeit für klare Worte einträgt.

Außerdem schafft sie ihr Freiräume für die notwendige Neuordnung der europäischer Asylpolitik: Wer will dieser Frau widersprechen, wenn sie die EU- Regierungschefs zum Sondergipfel nächste Woche auffordert? Wer ihr das Recht absprechen, den Europäern Solidarität und gemeinsame Lösungen abzuverlangen? Und wer in Deutschland will Bedenken und Zweifel an den Fähigkeiten Deutschlands zum Vorwand für weitere Abschottung artikulieren – wenn Merkel, die Umfragemehrheit der Deutschen im Rücken, zum zweiten Mal sagt: „Wir schaffen das“?

Am Mittwoch hat Merkel mit dem türkischen Regierungschef Erdogan telefoniert. Auch Erdogan ist eine Schlüsselfigur in der Krise. Sein Land beherbergt zwei Millionen Flüchtlinge, die in die EU drängen. Auch ihn braucht Merkel für eine Lösung in Europa – und hat sich mit ihrer Offenheit einen Partner gesichert.

Eine Garantie dafür, dass die Strategie aufgeht, gibt es natürlich nicht. Das Risiko ist hoch: Merkel hat keine formalen Druckmittel im EU-Rat, die Stimmung im Land kann umschlagen und die CDU im Frühjahr Wahlen verlieren. Aber das ficht sie vorerst nicht an. Vor kurzem hat sie in der Bundespressekonferenz gesagt, sie könne auch mit herber Kritik immer dann gut leben, wenn sie mit sich im Reinen ist. Das ist sie jetzt zweifellos.

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