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Wegen der Stromengpässe kommt es auch beim Bahn- und U-Bahn-Verkehr in der japanischen Hauptstadt zu Zugausfällen, die Passagiere müssen warten.

© dpa

In der Krise: Tokio und die Angst

Dienstag wurde in Japans Hauptstadt erstmals erhöhte Strahlung gemessen. Viele verlassen nun die Stadt – Panik gibt es aber nicht

Berlin - Als Maya Mochizuki nach dem Aufstehen den Computer anschaltet, hat sie 50 neue Mails im Postfach. Von Freunden, Bekannten, Verwandten. Jeder will wissen, wie es der 31-Jährigen geht, und ob sie Japan oder wenigstens Tokio schon verlassen hat. An der Tür steht die Notfalltasche bereit mit Wertsachen, Wasser und Windeln für ihre zweijährige Tochter Noe. Im Fernsehen laufen die Nachrichten über eine weitere Explosion im Atomkraftwerk Fukushima. Viel geschlafen hat sie nicht. Zeit oder Kraft, die Nachrichten ihrer Freunde alle zu beantworten, fehlt. Erst muss sie Noe versorgen. Dann wieder die Brotbackmaschine anwerfen. Dass sie die hat, ist ein Glücksfall. In vielen Supermärkten ist das Brot ausverkauft, genau wie Reis, Milch oder Fertig-Nudelsuppen. „Jetzt backe ich für meine Nachbarin mit“, sagt Maya Mochizuki.

Fünf Tage haben sie und ihre Familie nach dem verheerenden Erdbeben in Tokio ausgeharrt, an diesem Morgen fassen sie den Entschluss: Maya Mochizuki, ihr Mann Yoshi Ishigure und Tochter Noe werden Japan verlassen. „Die psychische Belastung ist einfach zu groß“, sagt die Japanologin. „Und es sieht nicht so aus, als würde sich die Lage beruhigen.“ Mit dem Flieger geht es erst nach Amsterdam – die einzige Direktverbindung, die für diesen Tag noch buchbar war – dann weiter nach Köln. Dort ist sie mit einem japanischen Vater und einer französischen Mutter aufgewachsen.

Die Radioaktivität ist es nicht, die ihr Angst macht – was sie zermürbt, ist der Druck ihrer Familie in Deutschland, die sich sorgt. Die Japaner bleiben auch jetzt noch vergleichsweise ruhig. Auch, weil es in einer Metropole mit rund 35 Millionen Einwohnern nicht anders geht. „Wir bewahren Ruhe, und darauf können wir stolz sein“, schreibt ein Japaner auf Facebook. „Wir sind stark.“

Leere Regale. Kunden suchen in einem Laden in Tokio nach Nahrungsmitteln.
Leere Regale. Kunden suchen in einem Laden in Tokio nach Nahrungsmitteln.

© REUTERS

Doch die dauernde Belastung und die Warnung vor Radioaktivität machen sich bemerkbar. Vor allem diejenigen, die mit Ausländern in Kontakt stehen und Freunde oder Verwandte außerhalb Tokios haben, überlegen, die Stadt zu verlassen. Viele zieht es in die südliche Region Kansai, in die rund 500 Kilometer entfernte Metropole Osaka, oder nach Kobe. Maya Mochizukis ausländische Freunde haben Japan – oder zumindest Tokio – schon den Rücken gekehrt. Viele fühlen sich schuldig, der Katastrophe zu entkommen, ihre japanischen Freunde aber zurücklassen zu müssen. Denn nicht alle können einfach weg.

„Die Stimmung in Tokio ist angespannt. Aber Panik ist keine ausgebrochen“, sagt auch Kentaro Blumenstengel. Der 28-jährige Deutschjapaner lebt mit seinen Eltern in der japanischen Hauptstadt, seine Schwester wohnt in Deutschland. Viele Menschen hätten begonnen, die Stadt gen Süden zu verlassen, berichtet auch er. Kentaro selbst ist am Montagabend gemeinsam mit seiner Mutter in Kyoto angekommen. Der Vater, ein Deutscher, besucht gerade die Schwester in Deutschland. Zuletzt seien die Straßen in Tokio leerer als sonst, die Bahnhöfe hingegen überfüllt gewesen, berichtet er. „Ich bin streitenden Pärchen in der Bahn begegnet, deren Anspannung man deutlich spüren konnte.“ Auch seien die Supermärkte leer gekauft worden. Eigentlich hatte die Regierung gebeten, einige Rationen für Notlieferungen aufzuheben. Benzin sei nur noch in 10-Liter-Rationen ausgegeben worden, und auf der Arbeit habe sich keiner mehr konzentrieren können, sagte Blumenstengel, der für die Deutsche Firma Würth arbeitet. „Jeder versucht permanent an Informationen zu kommen, die mittlerweile aber nur noch verwirren.“ Eigentlich wollte Blumenstengel Tokio nicht verlassen. „Ich vertraue der Regierung zwar nicht, aber ich bin sicher, dass das Ausmaß nicht so schlimm werden wird.“ Doch die Familie wollte nicht, dass seine Mutter und er länger in der Hauptstadt bleiben.

Die Folgen einer Massenflucht aus Tokio will sich Blumenstengel erst gar nicht vorstellen. „Wer dort morgens in einer vollen Bahn gefahren ist, weiß, dass das eine logistische Meisterleistung ist. Da wird man schon an einem ganz normalen Tag in die Bahn hineingepresst. Unvorstellbar, was es bedeuten würde, wenn 20 Millionen Menschen die Stadt verlassen wollten.“ Vielleicht nehme auch deshalb die Regierung das Wort Tokio nicht in den Mund, wenn sie über eine mögliche Strahlenbelastung spreche. „Ich gehe davon aus, dass sie Angst vor einer Massenpanik haben.“ Ob Blumenstengel das Land verlassen will? „Für Ausländer ist es leicht zu sagen, ich haue ab. Aber ich habe hier Freunde und Familie, die das nicht so einfach sagen können. Deshalb will ich nicht gehen.“

Maya Mochizukis Mann, ein Fernsehproduzent, geht am Dienstagmorgen noch einmal ganz normal zur Arbeit – wie viele Tokioter. Wer nicht erscheint, muss um seinen Job fürchten. Trotz ständiger Nachbeben, Stromausfälle und eingeschränktem Zugverkehr. Eine Notfalltasche mit Jodtabletten und Erste-Hilfe-Set im Gepäck muss reichen. „Das Leben muss ja irgendwie weitergehen“, sagt Maya Mochizuki.

Als das Erdbeben vergangene Woche Japan erschüttert, ist Maya Mochizuki mit einer Freundin gerade auf dem Heimweg. Während sie an ihrer Haltestelle aus der U-Bahn steigt, beginnen Wände und Erde zu wackeln. „Als das Zittern nach kurzer Zeit nicht nachgelassen hat, ist uns klar geworden: Diesmal ist es ernst“, sagt Maya Mochizuki. Es folgen Tage der Unsicherheit, der Ungewissheit. Ständig laufen im Fernsehen die Nachrichten, sieht die Familie Bilder von in Trümmern stehenden weinenden Menschen und Explosionen in Atomkraftwerken. In den Supermärkten und Läden leeren sich die Regale. Die Familie kauft Streichhölzer, Kerzen, Taschenlampen und Wasser. Am Tag zwei nach dem Erdbeben geht Maya Mochizuki mit ihrer Tochter in den Park, um wenigstens ein bisschen Normalität einkehren zu lassen. Doch dann wird es immer schlimmer. Am Tag drei nach dem Beben beginnen die Stromausfälle, am Dienstag wird erstmals radioaktive Strahlung in Tokio gemessen.

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