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Junge Inderin auf einem Markt in Kalkutta.

©  dpa

Indien: Das Land der ungeborenen Töchter

Seit Jahren appelliert Indiens Regierung in Anzeigen "Rettet die Mädchen". Doch gefruchtet hat die Kampagne offenbar wenig: Indiens Bevölkerung wächst weiter – aber nie gab es so wenige Mädchen.

Neu-Delhi - Der Anteil der Mädchen am Nachwuchs ist erneut alarmierend abgestürzt – auf den tiefsten Stand seit der Unabhängigkeit Indiens vor 63 Jahren. Das ergab der am Donnerstag in Delhi vorgelegte Zensus 2011. Demnach kommen in der Altersgruppe bis sechs Jahren nur noch 914 Mädchen auf 1000 Jungen. Vor zehn Jahren waren es noch 927. „Der Trend hat sich verschlimmert“, warnte die Zensus-Behörde.

Die zweitgrößte Nation der Welt hatte erstmals seit zehn Jahren wieder die Bevölkerung durchgezählt. Demnach ist das Land dabei, langsam den übermächtigen Rivalen China zu überrunden. Indien beheimatet nun 1,21 Milliarden Einwohner – das sind rund 17 Prozent oder 181 Millionen mehr als noch 2001. China kommt auf derzeit 1,34 Millionen. US-Statistiker prognostizieren, dass Indien China bis 2025 überholt hat. Indien alleine beheimatet heute genauso viele Einwohner wie die USA, Indonesien, Brasilien, Pakistan, Bangladesch und Japan zusammen – insgesamt 17 Prozent der Weltbevölkerung.

Ähnlich wie in China könnte der wachsende Frauenmangel aber auch in Indien massive soziale Probleme schüren. Experten warnen, dass ganze Generationen frustrierter Junggesellen heranwachsen, die soziologischen Studien gemäß oft weitaus aggressiver seien als verheiratete Männer. Dies könne die Kriegsgefahr erhöhen. Schon heute finden junge Männer aus besonders mädchenarmen Gegenden Indiens keine Bräute mehr. Oft kaufen sie Frauen aus armen Regionen ein, die sie nicht selten wie Sklavinnen behandeln oder bisweilen sogar mit anderen männlichen Verwandten teilen.

Frauen zählen in Indien wenig, Männer gelten dagegen als Krone der Schöpfung. Bis heute ist der Brauch der Mitgift, obwohl verboten, weit verbreitet. Dabei müssen die Eltern der Braut dem Bräutigam zur Hochzeit eine Mitgift zahlen, um den „minderen Wert“ der Frau auszugleichen. Töchter gelten als finanzielle Bürde. Zumal sie nach der Hochzeit zur Familie des Mannes gehören. „Eine Tochter zu füttern, ist wie den Garten des Nachbarn zu wässern“, heißt ein Sprichwort. Doch auch in relativ wohlhabenden Familien fehlen auffällig viele Töchter. So liegt etwa in der Hauptstadt Delhi der Mädchenanteil sogar noch dramatisch unter dem Landesschnitt.

Die Wege, sich der Mädchen zu entledigen, sind vielfältig. Viele Eltern treiben Mädchen bereits gezielt vor der Geburt ab. „Female Foeticide“ wird diese Praxis in Englisch unter Anlehnung an das Wort „Genozid“ genannt. Zwar ist es in Indien den Ärzten bei Strafandrohung verboten, werdenden Eltern das Geschlecht ihres ungeborenen Kindes zu verraten. Doch gegen ein wenig Schmiergeld sind viele Doktoren weiter bereit, verschlüsselte Andeutungen zu machen, um welches Geschlecht es sich handelt.

Doch auch nach der Geburt sind Mädchen nicht sicher. Manche werden vergiftet, erstickt, sogar lebendig begraben. Studien zeigen, dass Eltern Mädchen nicht nur schlechter ernähren, sondern auch an ihrer ärztlichen Behandlung sparen. Auch dies führt zu deutlich höheren Todesraten unter weiblichen Kindern.

Die Verachtung des Weiblichen zieht sich durch die gesamte Gesellschaft und erstreckt sich sogar bis auf Hunde. Inder, die sich Hunde als Haustier halten, kaufen fast ausschließlich Rüden, obgleich Weibchen deutlich billiger sind. Doch männliche Hunde gelten als Statussymbole.

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