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Politik: Ins eigene Fleisch

Ein Überfall, sagt er, Räuber hätten ihm den Finger abgetrennt. Nun will er Geld von der Versicherung. Doch jetzt steht er vor Gericht. Selbstverstümmelung, glaubt die Staatsanwaltschaft.

Schlechte Zähne vergisst ein guter Zahnarzt nie. Vor allem die schiefen Zahnreihen seiner beiden Peiniger will Marcus B. noch genau vor Augen haben. Sie hätten ihn breit angelächelt, bevor die Räuber die Gartenschere zudrückten und die Scherenwangen seinen linken Zeigefinger durchtrennten.

Mit bebender Stimme steht Marcus B. im Saal des Potsdamer Amtsgerichts und liest aus seiner Erklärung. Von den Räubern fehlt jede Spur, nicht nur im Gerichtssaal. Seit April steht der Zahnarzt aus Fichtenwalde selbst als Beschuldigter vor der Anklagebank. „Ich habe mir nie etwas zuschulden kommen lassen“, liest der 43-Jährige von den Blättern in seiner Hand ab, die seinen Ruf und seine Existenz retten sollen. B. spricht von einer „Verquerung der Tatsachen“, räuspert sich, fährt sich mit der Hand durch die dünnen Haare, wischt sich über sein hellbraunes Poloshirt. Er spricht von seinen Ängsten, den Ängsten seiner Familie. Die Täter könnten zurückkommen. Und er spricht von seinen Patienten und deren Blicken auf seinen Fingerstumpf.

Die Staatsanwaltschaft glaubt B. nicht. Zu konstruiert klingt die Geschichte des Arztes, der erst wenige Wochen vor dem vermeintlichen Überfall eine Unfallversicherung abgeschlossen hat. In einer Höhe, um sämtliche Kredite für seine noch junge Zahnarztpraxis abzulösen.

Ein Finger für Geld? Es wäre nicht der erste Fall, in dem Menschen die Auszahlung einer Versicherung mehr bedeutet als körperliche Unversehrtheit. Katrin Rüter, Sprecherin der Deutschen Versicherungswirtschaft GDV, kennt das Problem. Angetrieben vom Glauben an das schnelle Geld und ein von Arbeit unbeschwertes Leben, unterschätzen Betrüger bisweilen die Möglichkeiten der Gerichtsmedizin. Zahlen über die absichtlichen Selbstverstümmelungen führen die Versicherer zwar offiziell nicht, „aber praktisch jeder Kollege aus der Unfallversicherung kann eine Geschichte erzählen“, sagt Rüter. Einige machten bundesweit Schlagzeilen.

Da war zum Beispiel der Landschaftsgärtner aus Bad Pyrmont. Für hunderttausende Euro legte er sein Bein vor neun Jahren absichtlich auf eine Bordsteinkante und ließ seine Freundin mit dem Auto darüberfahren. Mehrmals. Oder der Chirurg aus Gransee, die Presse nannte ihn „Dr. Siebenfinger“. Beim Holzsägen will er im Jahr 2011 drei Finger verloren haben, ein Hornissenschwarm habe ihn erschreckt, die Kettensäge sei abgerutscht, die Finger waren ab. Es ging um Versicherungsprämien in Höhe von rund 1,7 Millionen Euro und eine monatliche Rente von 6000 Euro. Der Betrugsprozess endete mit einem Freispruch. Geld bekam der Arzt allerdings nie, weil der eindeutige Beweis für einen Unfall fehlte.

Es waren immer wieder vor allem gut versicherte Ärzte, die für die Aussicht auf schnelles Geld Hand an sich legten, sagt Katrin Rüter. „Bei Medizinern oder auch Pianisten ist der Verlust eines Fingers viel schwerwiegender als bei anderen Berufsgruppen.“ Deshalb sei die Versicherungsleistung bei ihnen deutlich höher, der Anreiz größer. Normalversicherte erhielten beim Verlust des Zeigefingers eine Invalidität von rund zehn Prozent bescheinigt, bei Chirurgen liege der Satz bei 60 Prozent. „Da schauen die Versicherer schon einmal nach, ob der Finger vor dem Verlust anästhesiert wurde.“

Auch im Fall des Fichtenwalder Zahnarztes waren die Kriminalbiologen, Rechtsmediziner und Toxikologen schnell aktiv. Im Gerichtssaal saßen sie Marcus B. von Beginn an gegenüber.

„Ich hatte und habe kein Motiv für einen Versicherungsbetrug“, trägt B. mit schwerer Stimme aus seiner Erklärung vor. An jenem 26. März 2012 habe er nur schnell noch Hundefutter vom Supermarkt kaufen wollen, erzählt er. Er sei allein in seiner Praxis gewesen. Als er die Tür zum Treppenflur öffnete, bekam er einen Schlag gegen den Kopf. „Danach kann ich mich nur noch an meinen Finger zwischen der Schere erinnern.“ Die beiden jungen, ungepflegt aussehenden Männer mit schlechten Zähnen verlangten Geld, Gold und Medikamente. B. hatte nur 50 Euro in der Tasche – für das Hundefutter. Die Praxiskasse war leer, auch der Tresor hinter dem Empfangstresen. „Da wurde ihre Laune schlechter.“ Völlig ansatzlos hätten sie die Schere zugedrückt. „Der Schnitt ging wie durch Butter“, sagt B. Vor seinem Gesicht hätten sie noch mit dem blutenden Finger umhergewedelt und etwas von Souvenir gerufen, dann seien sie verschwunden. Mit dem Finger.

Später wird er schweigen und die Verhandlung von der Anklagebank verfolgen. Seine linke Hand hat er versteckt. Im Sitzen tief in der rechten Achsel, im Stehen in der Hosentasche. Ab und zu greift er mit links zum Papiertaschentuch, fingert es mit Mittelfinger und Daumen aus der Packung heraus.

Es gibt Warnzeichen, die auf einen Versicherungsbetrug durch Selbstverstümmelung hinweisen, sagt Klaus Püschel. Der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf hat tausende Leichen untersucht und war als Rechtsmediziner schon oft als gerichtlicher Gutachter in ähnlichen Fällen von Versicherungsbetrug aktiv. Im Jahr 2001 veröffentlichte er gemeinsam mit seinen Kollegen Eberhard Hildebrand und Klaus Hitzer das Buch „Simulation und Selbstbeschädigung“.

Die Hand von der Kreissäge zerfetzt, den Daumen beim Holzhacken abgetrennt, die Finger vom Schweinetrog zertrümmert oder von den Hunden gefressen – die Wissenschaftler befassten sich mit über 40 Betrugsfällen und entwickelten eine Art Checkliste für die Versicherer. Wurde vor dem Unfall eine hohe Versicherung abgeschlossen? Ist das Opfer in Geldnot? Fehlen Zeugen? Wo ist das Blut und wo das Tatwerkzeug?

Oft waren es Ärzte und oft verstümmelten sie ihre linke Hand oder Finger der linken Hand, sagt Püschel. Der Fantasie waren gerade Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre keine Grenzen gesetzt. Besonders eine Police der „Aachener und Münchener Versicherung“ inspirierte viele Mediziner. Sie sah eine hundertprozentige Invalidität bei nur einem abhanden gekommenen Körperteil vor. „Eine Million Mark für einen Finger und gerade 1000 Mark Jahresbeitrag“, sagt Püschel. Dutzendweise verletzten sich gut versicherte Ärzte. Einer wollte erst mit dem Fuß in den Rasenmäher geraten sein, beim Griff nach dem Stumpf sei auch noch der rechte Zeigefinger zermalmt worden. Ein anderer gab an, sein Dackel sei bei der Entenjagd an ein abgestelltes Gewehr gekommen, ein Schuss löste sich, ab war die linke Hand des Herrchens. Die Versicherung zog ihr Angebot schnell wieder aus dem Verkehr.

Mit Leichenteilen, Schweinefüßen oder Schweineschwänzen versuchten die Experten die Unfälle an Kreissägen, Hackklötzen oder im Motorraum eines Autos nachzuspielen. „Unmöglich ist es, sich den Daumen mit einem Truhendeckel oder einer zuklappenden Autotür abzuschlagen.“ Gleiches gelte für Ventilatoren. „Auch eine umstürzende Betongehwegplatte trennt einen Zeigefinger nicht glattrandig im Grundglied und ohne Verletzung anderer Finger ab.“

In einem anderen Fall hatte ein Anästhesist angegeben, auf der Eisbahn gestürzt zu sein. Jemand sei ihm dabei über seinen linken Zeigefinger gerast, der Finger war verschwunden. Aber: Schlittschuhe können keine Knochen zertrennen. Mit einer speziellen Amboss-Gartenschere sei es allerdings ein Leichtes, einen Daumen zu durchtrennen.

Heute sind solche Fälle die Ausnahme, sagt Püschel. Trotzdem gibt es sie. Etwa ein bis zweimal im Jahr wird er als Experte gerufen, wenn mal wieder ein Bein, eine Hand oder ein ganzer Arm fehlt.

Schon kurz nach dem angeblichen Überfall auf Zahnarzt Marcus B. gab es Zweifel an dem geschilderten Tatablauf. Obwohl tagelang Polizisten und Spürhunde das Grundstück und die Umgebung rund um seine Praxis absuchten, fanden sie keine Spur von den Tätern, der Tatwaffe oder dem Finger. Dafür erzählten Nachbarn, der Arzt habe sich bei der Einrichtung seiner Praxis hoch verschuldet.

Als die Ermittler genauer hinsahen, stießen sie auf weitere Fragen: So wurden nach dem vorgeblichen Überfall kaum Blutspuren in der Zahnarztpraxis gefunden. In einem Experiment hatte deshalb ein Kriminalbiologe die vermeintliche Tat mit Spritzen nachgestellt, um die Flugbahn der Bluttropfen vom Fingerstumpf auf den Boden zu berechnen. Demnach entsprechen die gefundenen Blutmuster nicht denen einer arteriellen Blutung, wie sie beim Abschneiden des Fingers zu erwarten gewesen wären. Das Blut sei nicht gespritzt, sondern aus dem nach unten gehaltenen Fingerstumpf auf den Boden getropft und so verteilt worden.

Auch der am Tattag gerufene Rettungsarzt konnte sich im Amtsgericht noch gut an den Fall erinnern. Er habe B.s Wunde versorgt. Ihm sei aufgefallen, dass der verletzte Zahnarzt wenig Blut verloren habe. „Es war eine glatte Wunde, sie hat nur minimal geblutet.“

B.s Version hört sich so an: Als die Räuber weg waren, habe er seine Wunde im Bad gewaschen und sich im Behandlungszimmer Schmerzmittel in den Fingerstumpf gespritzt. Allerdings wurden in allen Blutspuren in der Praxis Schmerzmittel gefunden. Hat sich B. also vor dem Schnitt selbst betäubt? Die Frage hat das Amtsgericht zu entscheiden.

In der Checkliste von Rechtsmediziner Klaus Püschel ist Schmerzmittel in solchen Fällen ein Anzeichen, bei dem die Versicherungen aufhorchen sollten. „Selbst verschwundene Gliedmaßen können je nach Fall ein schwaches Indiz für einen Betrug sein“, sagt Püschel. „Denn für einen angenähten Finger bekommt man kein Geld.“ So hatte ein Betrüger in einem Fall angegeben, seine zwei Dackel hätten je einen amputierten Finger gefressen. Unglaublich klingt auch die Geschichte eines Chirurgen, der sich vor seinem angeblich versehentlich abgehackten Finger so geekelt habe, dass er ihn in die Mülltonne warf, statt den Finger ins Krankenhaus zu bringen. Dabei wissen gerade Ärzte, dass die Chancen gut sind, einen Finger wieder anzunähen, sagt Püschel.

Die Dunkelziffer der unentdeckten Versicherungsbetrügereien könnte hoch sein, schätzt GDV-Sprecherin Katrin Rüter. Denn nicht immer half ein schnelles Gutachten, um die Wahrheit zu erfahren. So dauerte es im Fall eines 36-jährigen Zahntechnikers Jahre, bis herauskam, dass er sich die Trümmerbrüche an seiner Hand selbst zugefügt hatte. Seine Ehefrau verriet ihn nach einem Krach, absichtlich habe er einen Futtertrog auf die linke Hand fallen lassen und anschließend sogar mit einer Schraubzwinge darauf eingedroschen. Der Mann musste die etwas mehr als 100 000 Euro zurückzahlen.

Auch Marcus B. hat bislang noch keinen Cent von der Versicherung erhalten. „Wir haben immer gut von meinen Einnahmen leben können“, sagt der Zahnarzt im Amtsgericht. Er besitzt eine Eigentumswohnung in Leipzig, zwei Autos, einen Wohnwagen und ein Pony für die Tochter. Ihr Hobby seien Pferde und Sportkutschenfahren. Das sei auch der Grund für den Abschluss der Versicherung gewesen. Seine Frau habe sich vor langer Zeit bei einem Unfall mit einer Kutsche verletzt, hätte beinahe nicht mehr laufen können, erzählt B. vor Gericht. Sein Vater habe ihn deshalb gedrängt, eine Unfallversicherung abzuschließen. Das tat der Mediziner auch. Wenige Wochen später war sein Finger ab, da lag die Versicherungspolice noch ungeöffnet in der Praxispost. Er habe nicht gewusst, dass sich die Schadenssumme von 600 000 Euro allein durch den Umstand eines Raubüberfalls noch einmal um weitere 250 000 Euro erhöhen würde. Am Dienstag, dem 18. Juni, soll im Amtsgericht das Urteil gesprochen werden.

„Diese Erfahrung wünsche ich niemandem“, sagt B., bevor er mit tränenerstickter Stimme wieder auf der Anklagebank Platz nimmt. „Mein einziger Gedanke war, dass der Finger unbedingt gefunden werden muss, um ihn wieder anzunähen.“ Schweigend verfolgt er den Prozess. Vielleicht hat er ja auch recht.

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