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Zu früh? Viele Juden und Muslime lassen ihre Kinder aus religiösen Gründen beschneiden. Strafrechtler Putzke fordert eine Verschiebung des Rituals, bis die Betroffenen selbst darüber entscheiden können. Im Bild ein Junge bei einer Zeremonie in Istanbul. Foto: Ibrahim Usta/dapd

© dapd

Interview mit Strafrechtler: „Beschneidung ist Körperverletzung“

Holm Putzke hat sich als einer der ersten deutschen Strafrechtler mit dem Thema Beschneidung beschäftigt. Im Interview spricht er über das Kölner Urteil und die Balance zwischen Religion und Kinderrechten.

Sie haben sich 2008 als einer der ersten deutschen Strafrechtler in einem Aufsatz mit dem Thema Beschneidung beschäftigt. Die Kölner Richter haben sich in ihrem Urteil jetzt auf Ihre Argumente berufen. Wie sind Sie zu dem Thema gekommen?

Mein akademischer Lehrer Rolf Dietrich Herzberg hat viel über Religion und Integration gelesen, unter anderem „Wüstenblume“ von Waris Dirie und „Die verlorenen Söhne“, in dem Necla Kelek von der Beschneidung ihres Neffen berichtet. Anfang 2007 hat er mich, eine muslimische Studentin und einen befreundeten türkischstämmigen Arzt eingeladen, weil er Erfahrungen aus erster Hand hören wollte. Irgendwann ging es um Beschneidung. Das fand ich interessant und bin dem Thema nachgegangen.

Kennen Sie die Kölner Richter?
Die Prozessbeteiligten in Köln kenne ich nicht. Ich habe von dem Fall erst erfahren, als das Urteil da war.

Sie vertreten die Auffassung, dass die religiös motivierte Beschneidung von Jungen strafbar ist. Warum?
Erstens: Aus medizinischer Sicht bringt die Beschneidung, jedenfalls im Kindesalter, keine Vorteile. Wenn man in einer Region der Welt lebt, wo die Infektionsgefahr größer ist, etwa weil man sich nicht waschen kann, mag der Eingriff präventiv sinnvoll sein. Aber nicht bei uns. Zweitens: Die Beschneidung ist eine Körperverletzung wie jede andere Operation auch.

Andere Juristen argumentieren, der körperliche Eingriff ist gerechtfertigt, wenn die Eltern zustimmen.
Nicht automatisch. Nur wenn es dem Kindeswohl dient. Und das sehe ich nicht. Es bringt keine gesundheitlichen Vorteile, dafür aber Schmerzen, einen irreversiblen Verlust von Körpersubstanz und kann zu Traumata führen, nicht zu reden vom Operationsrisiko, dem das Kind ohne medizinische Notwendigkeit ausgesetzt wird.

Ist nicht trotzdem der Nutzen größer als der Schaden? Durch die Beschneidung wird ein jüdischer oder muslimischer Junge Teil einer religiösen Gemeinschaft. Diese Zugehörigkeit ist wichtig für seine Identität.
Hier definieren die Religionsgemeinschaften, was identitätsstiftend ist. Das allein kann nicht der Maßstab sein. Religionsgemeinschaften stehen ja nicht über dem Recht.

Es gibt auch das Grundrecht der Religionsfreiheit. Ist es nicht dem Einzelnen überlassen zu definieren, was für seine Identität wichtig ist?

Nicht wenn es um Körperverletzung geht. Da hat der Staat das Recht und auch die Pflicht einzugreifen. Die Religionsfreiheit kann niemals die Körperverletzung eines anderen Menschen rechtfertigen. Außerdem sollte jeder Mensch selber entscheiden dürfen, ob er sich ein körperliches Kennzeichen zulegt, wenn damit eine religiöse Bedeutung verbunden ist.

Im Judentum gibt es die Beschneidung seit tausenden Jahren. Sie ist das grundlegende Zeichen für Gottes Bund mit dem Volk Israel. Jetzt sagen deutsche Richter: geht nicht. Ist das nicht anmaßend? 

Ich bin kein Theologe, gebe aber zu bedenken, dass die Bibel oft auch widersprüchlich ist und dass sich die Interpretationen der Bibel im Laufe der Zeit immer wieder verändert haben. Es muss doch erlaubt sein, nach annähernd 4000 Jahren die Frage zu stellen, ob man die Beschneidung immer noch als körperverletzenden Eingriff praktizieren muss. Es gibt auch viele Juden, die nichts mehr zu tun haben wollen mit diesem blutigen Eingriff, die ihn verschieben oder nur noch symbolisch andeuten. Keiner dieser Juden sieht sich in seiner religiösen Identität bedroht.

"An den Genitalien von kleinen Kindern hat niemand etwas verloren!"

Was raten Sie Juden und Muslimen?

Es wäre vermessen, wenn ich etwas raten würde. Es geht nicht darum, das Ritual zu verbieten. Alternativ kommt eine Verschiebung in Betracht. Wichtig ist, dass es zu einem Zeitpunkt stattfindet, an dem die Kinder in der Lage sind, die Tragweite dieses Eingriffs abzuschätzen. Das ist nicht zwingend mit der Religionsmündigkeit mit 14 Jahren der Fall, doch spätestens mit der Volljährigkeit.

Haben Sie mit der Debatte gerechnet?

Mir war bewusst, dass das ein sehr sensibles Thema ist. Dass das Kölner Urteil zu einer so grundlegenden Debatte führt, habe ich mir nicht vorgestellt. Ich finde aber richtig, dass es sie gibt. Dadurch wird unsere Gesellschaft nicht religionsfeindlicher, sondern wir werden uns bewusster über das Verhältnis zu Religionen und über die Bedeutung von Kinderrechten.

Kommentare besonders im Internet haben einen hasserfüllten Ton. Sie erklären aus einer vermeintlich aufgeklärten Position heraus den Juden und Muslimen, warum sie mit ihren „barbarischen“ Praktiken aufhören müssen. Erschreckt Sie das? 

Ja. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass diese Kommentare die Debatte beherrschen. Ich finde, dass überwiegend eine sehr differenzierte Diskussion stattfindet. Dabei lässt sich die Zustimmung von der falschen Seite leider nicht vermeiden. Das muss eine Demokratie aushalten.

Reagiert die Politik angemessen?

Der deutsche Staat hat eine besondere Verantwortung für den Schutz religiöser Minderheiten. Aber rechtfertigt die Staatsräson, dass man sich über das Grundgesetz und das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit hinwegsetzt? Das ist zweifellos ein Dilemma, das in meinen Augen aber nicht zulasten der Kinder und ihrer körperlichen Unversehrtheit aufgelöst werden darf.

CDU, FDP und SPD haben bekräftigt, dass es noch im Herbst ein Gesetz geben soll, das die Knabenbeschneidung legalisiert. Würgt man damit die Diskussion ab?

Ich denke schon. Ich wünsche mir, dass wir differenziert diskutieren und nicht unter der Drohung, dass jüdisches Leben hier nicht mehr stattfinden kann. Es wäre falsch, wenn es zu einem Gesetz kommt, das nicht genau durchdacht ist. Das kann zu massiven juristischen Folgeproblemen führen.

Foto: Holm Putzke
Foto: Holm Putzke

© picture alliance / ZB

Zum Beispiel?

Es gibt auch die religiöse Beschneidung von Mädchen.

Das ist doch nicht vergleichbar und würde ja auch nicht erlaubt!

Nehmen wir an, eine Beschneiderin aus einem afrikanischen Dorf kommt hierher, sagt, okay, ich entferne nicht mehr Klitoris und Schamlippen, sondern steche nur einmal mit der Nadel in die Schamlippen. Wenn wir die religiöse Beschneidung bei Jungen gestatten, müssten wir das nicht auch zulassen? Zweifellos ist das Einstechen nicht eingriffsintensiver als das Abschneiden der kompletten Vorhaut. Die Antwort lautet ganz klar: nein. An den Genitalien von kleinen Kindern hat niemand etwas verloren, auch nicht, wenn es nur um einen kleinen Stich geht.

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