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Der Protest hat Israel voll erfasst. Etwa 150000 Menschen demonstrierten vor allem in Großstädten.

© AFP

Israel: Aufstand der Mitte

Sie wollen eine bessere Gesellschaft: In Israel wächst der bürgerliche Protest.

Die landesweite Protestwelle gegen die sozialen Verhältnisse in Israel überrascht in ihrem Ausmaß und ihrer Wirkung Regierung und Organisatoren. „Das Volk fordert gesellschaftliche Gerechtigkeit“ – unter diesem Motto demonstrierten über 150 000 Bürger, vornehmlich aus der Mittelschicht und der akademischen Welt einschließlich der Studenten, in israelischen 16 Groß- und Kleinstädten. Damit ist Samstagnacht die Entscheidung gefallen: Die seit zwei Wochen das Land überrollende Protestwelle bildet sich nicht zurück, wie von Regierungsseite erhofft, sondern erfreut sich einer mächtigen Solidarität in breiten Bevölkerungskreisen.

Allein in Tel Aviv, wo seinerzeit die ersten Protestiererzelte auf dem mondänen Rothschild-Boulevard errichtet worden waren und vor einer Woche überraschend 20 000 Demonstranten durch die Stadt zogen, forderten diesmal rund 100 000 von den Politikern eine „Kehrtwende um 180 Grad“ in der Gesellschaftspolitik, von der Regierung eine „neue Prioritätenliste“, aber auch lauthals den Rücktritt von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu: „Bibi nach Hause“.

Netanjahu gab am Sonntagmorgen nach. Er kündigte die Bildung einer Minister-Delegation an, die Kontakt zu allen gesellschaftlich relevanten Gruppen einschließlich der Protestierer aufnehmen und sich mit diesen an einen „Runden Tisch“ setzen soll, den er bisher entrüstet abgelehnt hatte. Aus diesen Gesprächen sollen ein neuer Wirtschaftsplan, den er in einigen Wochen präsentieren werde, sowie Steuerentlastungen für den Mittelstand resultieren.

Netanjahus Problem: Niemand glaubt ihm, seine Ankündigungen und Pläne werden als unglaubwürdig zurückgewiesen. Erstens habe auch diese Regierung kein einheitliches gesellschaftliches Konzept, das den Bürgern, insbesondere dem unter der Steuer- und Abgabenlast zusammenbrechenden Mittelstand, gerecht werde. Zweitens habe Netanjahu es bisher nie geschafft, seine Reformen umzusetzen. Drittens blockiere die wuchernde Bürokratie jeden Fortschritt.

Längst stellt das ursprüngliche Verlangen nach bezahlbaren Wohnungsmieten und -preisen nur noch einen Teil des Forderungskatalogs der protestierenden MIttelklasse dar. Dazu kommen Einflussnahme und Überwachung durch den Staat im Wohnungswesen anstelle von Gesetzen, die Baulöwen bevorteilen, Gesundheits- und Bildungsreformen, Unterstützung für die sozial Schwachen, die unterbezahlten Sozialarbeiter und Polizisten.

Die von der hohen Teilnahme an den vorabendlichen Demonstrationszügen überraschten Protest-Organisatoren haben am Sonntag erstmals die Bildung einer Führung aus Delegierten jeder Zeltstadt sowie eine erhebliche Verschärfung ihrer Kampfmaßnahmen angekündigt, ohne ins Detail zu gehen. An diesem Montag folgt nun der landesweite Streik in den kommunalen Diensten, aus Solidarität mit den Zeltstadt-Protestierern. Und ein Ende ist nicht abzusehen.

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