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Politik: Ist ja gruselig

Seit 40 Jahren schreibt Helmut Rellergerd Woche um Woche die Geisterheftreihe „John Sinclair“, ein halbes Leben lang. Und während sein Held in London alterslos Vampire jagt, kommt in Bergisch Gladbach der Autor kaum noch die Treppen hoch.

Der Tag beginnt mit einem Fluch. „Scheiße“, sagt Helmut Rellergerd. Er hat verschlafen. Nun ist es schon acht Uhr, als er die Treppen ins zweite Stockwerk seines Reihenhauses in Bergisch Gladbach hochsteigt, statt sieben, wie üblich. Er stöhnt. Früher ging das alles leichter. Manchmal fragt er sich, warum er sich das eigentlich antut. Jeden Tag früh aufstehen, die Treppen hochsteigen, in sein Schreibzimmer gehen, sich mit Vampiren, Werwölfen, Zombies rumschlagen.

Rellergerd ist 68, im Rentenalter. Andere 68-Jährige blieben einfach liegen, denkt er. Dann setzt er sich an seinen Schreibtisch, Rücken zum Fenster in der Dachschräge. Links von ihm hängt an der Wand ein Ölgemälde mit seinem Konterfei. Das Bild zeigt einen jungen Rellergerd, die Haare blond, er ist auf dem Bild nicht älter als 35. Während der alte Rellergerd auf seine Olympia-Monica- Schreibmaschine „einhackt“, wie er es nennt, schaut ihm der junge Rellergerd von der Wand aus zu. Das Klacken der Schreibmaschine, grün, schwarze Tasten, Gold-Gravur an der Front, erfüllt den Raum. So geht das jeden Tag, sieben Tage die Woche – und das seit 40 Jahren.

So lange schon schreibt Helmut Rellergerd unter dem Pseudonym Jason Dark die Groschenheftreihe über den „Geisterjäger John Sinclair“. Früher kosteten die Hefte wirklich mal einen Groschen und waren erhältlich im Drehregal an der Supermarktkasse, wo heute iPhone-Karten hängen. Heute liegen sie in einigen Kiosken aus. Gerade sitzt Rellergerd an Heft Nummer 1809. Und Nummer 1810 spukt ihm schon im Kopf herum.

Rellergerd schreibt von morgens kurz nach sieben – oder acht, wenn er verschläft – bis mittags. Bis ihn seine Frau Roswitha zum Essen herunterruft. Normalerweise entstehen so 25 Seiten an Wochentagen, am Wochenende zehn. Das ergibt pro Woche ein neues Abenteuer.

1973 ging es damit los. Seitdem hat Helmut Rellergerd, wache helle Augen und Rentner-Strickjacke, es pausenlos mit Jason Dark und John Sinclair zu tun. Es ist eine sehr spezielle Beziehung, man könnte auch sie einen Fluch nennen.

Rellergerd hat die Figur John Sinclair erfunden, die Welt um ihn herum. Ohne Rellergerd keinen Sinclair. Er ist der Einzige in der Heftromanbranche, der alleine schreibt. Arzt-, Liebes-, Berg- und Schlossromane werden von Kollektiven verfasst, von acht bis zehn Autoren. Umgekehrt hängt aber auch Rellergerd an seinem Helden fest. Er ist sein Lebenswerk, sichert ihm sein Einkommen. Allerdings: Der Heftchenverlag Bastei Lübbe zahlt pauschal, Rellergerd ist nicht an den Verkäufen beteiligt. Und die sind gigantisch: Insgesamt wurden von Rellergerds Reihe 400 Millionen Hefte verkauft. „In den USA wäre ich steinreich“, sagt er hinter seiner Schreibmaschine sitzend, „wie Stephen King“.

Abenteuer Nummer 1809 heißt „Werwolf-Falle“. Zehn Coverentwürfe liegen auf Rellergerds Schreibtisch. Der Verlag schickt ihm alle paar Wochen einen Schwung neuer Titelbilder. Sie sind in einer Klarsichtfolie verpackt. Er zieht eins heraus, auf dem Bild eine Frau, blutverschmierter Mund, schwarze Haare, blitzende Augen. Mit Bleistift hat er einen Titel daruntergeschrieben: „Gier auf Blut“. „Das wird eine Vampirgeschichte, ganz klar“, sagt Rellergerd, „Vampir-Geschichten sind mir am liebsten.“ Weil ein Vampir auch ein Nachtwächter sein könne, am normalen Leben teilnehme. Die Figur sei nicht so festgelegt wie ein Zombie.

Die Vampir-Geschichte – inzwischen ist sie erschienen – spielt an der Londoner Universität. Vor einer Grufti-Diskothek wird der Student Bruce Garner von drei Männern angegriffen. Eine Vampirin rettet ihn. „Ausgerechnet eine Frau“, sagt Rellergerd. Wieder im Studentenwohnheim hat Garner Sex mit einer Kommilitonin. Die Vampirin ist ihm aber gefolgt, und sie beißt der Konkurrentin, wohl aus Eifersucht, in den Hals. Ein Fall für John Sinclair, bei Scotland Yard für alles Übernatürliche zuständig.

So oder ähnlich ist es immer, wenn Helmut Rellergerd alias Jason Dark seinen Sinclair losschickt.

Rellergerd hätte seine Hauptfigur gern auch in Dortmund angesiedelt. Da, wo er selbst herkommt. Aber in den 70er Jahren war das unvorstellbar. Gruselgeschichten und Krimis hatten in England zu spielen. Die Edgar-Wallace-Verfilmungen waren in deutschen Wohnzimmern stilbildend. Heute hat jedes Dorf seinen Regionalkrimi, kaum eine Stadt in Deutschland ohne „Tatort“-Ermittler.

John Sinclair aber ist in London geblieben, wo Rellergerd nie gewesen ist. Neben der Schreibmaschine liegt ein Stadtführer „London AA Street by Street, 5th Edition“, die Themse-Metropole auf 280 Seiten. Einen Computer benutzt er nur sehr selten, ein Handy besitzt er nicht. „Ich kann die Dinger nicht leiden“, sagt er. Wenn die Enkel zu Besuch sind, lässt er sich von denen die neuen Geräte zeigen. Um sie dann an der Schreibmaschine in seine Geschichten einzubauen, seinem Helden in die Hand zu drücken. Den London-Stadtplan immer griffbereit.

Aus England ist auch der Name, angelehnt an die britische 70er-Jahre-Krimiserie „Die Zwei“. Aus dem von Roger Moore gespielten Lord Brett Sinclair wurde John Sinclair. Rellergerd macht das häufiger. Wenn er Namen von Charakteren sucht, greift er zur Fernsehzeitung. Jason Dark stammt ebenfalls aus einer Fernsehserie aus Großbritannien. Peter Wyngarde spielte darin Jason King. Rellergerds Frau Roswitha mochte Wyngarde nicht, Rellergerd hat den Namen gewählt, um sie zu ärgern. Wenn er das heute erzählt, muss er lachen, die Augen strahlen. Seine Frau verdreht bei solchen Gelegenheiten gespielt die Augen. Auch sie muss mit John Sinclair leben. Rellergerd und sein Romanheld feiern in diesem Jahr Rubin-Hochzeit, 40 Jahre. Länger ist er aber mit ihr verheiratet, seit 1971.

Rellergerd hat John Sinclair in den vier Jahrzehnten nur zwischen den Zeilen altern lassen. Der Geisterjäger ist abgeklärter als früher, leidet auch mal, bekommt eine Erkältung, hat Rückenschmerzen. Irgendwann, damals in den 70er Jahren, als alles begann, waren Rellergerd und sein Held gleich alt. Heute ist der eine Großvater, der andere noch immer irgendwo zwischen 30 und 40. So wie der junge Rellergerd auf dem Porträt im Schreibzimmer, der den Gealterten anschaut, während der in die Tasten haut.

Rellergerd hat sich mit dem Geisterjäger Sinclair seinen Dorian Gray erschaffen. Durch den kann er auch im Jahr 2013 das Böse jagen, während er selbst die Treppen nur noch mit Mühe hochkommt. Den lässt er durch eine Stadt laufen, die er nie gesehen hat, den stattet er mit technischem Equipment aus, das er selbst nicht benutzt. Und den lässt er Dinge tun, die er selbst nicht kann, nie konnte. Sinclair rettet jede Woche die Welt vor Geistern, Zombies, Vampiren, Werwölfen. Er ist geschickt, jeder Situation gewachsen. Rellergerd ist überfordert, wenn er mit den Enkeln einen Fahrradreifen flicken soll. Sinclair ist mit seinem geliebten Bentley immer zur rechten Zeit am rechten Ort. Rellergerd besitzt nicht mal einen Führerschein. „Wenn ich Auto fahren würde“, sagt er, der das Gruseln zum Beruf gemacht hat, „wäre das der größte Horror“.

Er mag seinen Sinclair, hat ihn nach seinem Ebenbild geschaffen. Groß, kräftig, die vollen Haare blond, wie einst auch Rellergerd, bevor er über die Jahre ergraut ist. Sinclair ist die aufregende Version seiner selbst, ein Rellergerd 2.0. Eine Figur, die gut ankam, damals in den 70er Jahren zur Hochzeit der Heftromane. 100 000 Menschen kauften jede Woche den neuen John-Sinclair-Roman. Heute liegt die wöchentliche Auflage noch bei 14 000 Stück. Die meisten Leser sind Fans. Manche von ihnen lesen die Hefte seit 40 Jahren.

Im Regal neben Rellergerds Schreibtisch steht ein John-Sinclair-Lexikon. Herausgegeben von den Fans. „Die Leser“, sagt Rellergerd, „kennen sich besser aus als ich.“ Es sind die Leser von damals, die die Hefte auch heute noch kaufen, viele tun das aus Nostalgiegründen. Sie kennen ihren Geisterjäger Sinclair seit 40 Jahren, haben Woche für Woche das neue Heft gekauft, das gehört zum Leben dazu, Sinclair gehört zum Leben dazu. Rellergerd merkt das an den Zuschriften. Er merkt es besonders, wenn es um die Frauen im Leben von John Sinclair geht.

Der Geisterjäger, obschon gut aussehend und am Ende immer erfolgreich, ist nicht verheiratet. Er hat Affären, eine mit seiner Sekretärin, eine andere mit einer Detektivkollegin. Manchen Lesern gefällt das nicht. Da schreiben die einen, er solle doch bitte endlich seine Sekretärin heiraten, das andere Lager plädiert für die schöne Detektivin. Das geht Rellergerd zu weit. Er will die Deutungshoheit über seine Figur, über sein Lebenswerk behalten. Vielleicht quält er sich deswegen jeden Morgen die Treppen rauf. „Ich lasse den Sinclair mit beiden poppen“, sagt er, „Wo steht denn das geschrieben, du sollst nur eine lieben?“

Ist er mal neidisch auf seinen Helden? „Nein“, sagt er und lacht, was bleibt ihm übrig? Wäre ja albern. Er ist zufrieden, wie es ist. Außer die Sache mit dem Verlag. Das Verhältnis ist unterkühlt. Rellergerd beklagt zu wenig Wertschätzung, Bastei Lübbe würde die Figur ausschlachten, wie bei dieser fürchterlichen RTL-Serie aus dem Jahr 2000. Ein Sinclair mit schwarzen Haaren, hamburgischem Einschlag. Wenn Rellergerd darüber spricht, verändert sich die Mimik des netten Grusel-Großvaters in Strickjacke. „So eine Scheiße“, sagt er. Es sei seine Figur, nicht die irgendeines RTL-Fuzzis.

Für die Bestätigung wendet er sich an die Fans. Jedes Jahr gibt er eine Autogrammstunde in Dortmund, Heimspiel. Auch die Sache mit den Leserbriefen war seine Idee. 160 000 sind es bis heute. Er hat sie alle abgeheftet, die Leitz-Ordner füllen eine Regalwand im Schreibzimmer. Rellergerd schiebt auf dem Regalbrett einen kleinen Pappsarg zur Seite, den ihm seine Enkelkinder gebastelt haben, und zieht einen Ordner heraus. Er blättert durch die Seiten. Viele Briefe beginnen gleich: „Lieber Jason Dark“. Sie sind mit Schreibmaschine geschrieben oder in schnörkeliger Schreibschrift, oder sie sind verziert mit ungelenken Vampir-Zeichnungen. Er blättert gerne durch die Ordner. Es ist ein Blättern in der Vergangenheit. Die Leute haben mittlerweile aufgehört, ihm Briefe zu schreiben. Heute schicken sie E-Mails, oder sie diskutieren im Internet in John-Sinclair-Foren. Es sind kritische Fans, viele von ihnen finden, dass der Sinclair früher besser war, spannender, gruseliger.

Rellergerd hat keine Lust, sich damit auseinanderzusetzen. Er liest dann lieber einen der alten Briefe, die ein heute 40-jähriger Fan vor 30 Jahren verfasst hat. Als er im Krankenhaus lag, Blinddarmentzündung, und die öden Stunden mit Sinclair totgeschlagen hat. Rellergerd strahlt, wenn er die Leitz-Ordner vor sich liegen hat. Es sind liebevolle, interessierte Briefe.

In einem wird er gefragt, wovor er, der eine ganze Generation das Gruseln gelehrt hat, sich eigentlich fürchtet. Rellergerd stellt den Ordner ins Regal zurück und schiebt den kleinen Pappsarg wieder an seinen Platz. „Ich bin kein ängstlicher Typ“, sagt er. Er schließt die Tür zu seinem Schreibzimmer, Tagwerk erledigt. Mühsam geht er die Stufen hinunter, vorbei an dem Regal mit den John-Sinclair-Heften, ein kleiner Ausschnitt aus seinem Lebenswerk. Am Fuße der Treppe bleibt er stehen, die rechte Hand am Geländer, holt er Luft. So richtig Angst, sagt er, habe er nur vor dem Tod.

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