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Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn.

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Jean Asselborn zu drohendem Brexit: "Cameron hat mit dem Referendum einen Fehler gemacht"

Luxemburgs Außenminister Asselborn hält es für falsch, dass der britische Regierungschef sich auf ein EU-Referendum eingelassen hat. Nachverhandlungen sind nach einem Brexit-Votum keine Option, sagt er im Interview.

Herr Asselborn, ist es denkbar, dass demnächst weniger Englisch in Brüssel gesprochen wird?

(lacht) Sie meinen, dass dafür künftig in der EU mehr Deutsch gesprochen wird?

Anders gefragt: Bleibt Englisch in Brüssel selbst dann die vorherrschende Sprache, wenn sich die Briten beim Referendum am 23. Juni für den Brexit entscheiden sollten?

Der frühere britische Außenminister Jack Straw hat mir einmal in den Neunzigerjahren gesagt, er habe versucht, Französisch zu lernen, um etwas in Brüssel zu verstehen. Das hatte er aber dann gar nicht mehr nötig, weil spätestens mit der EU-Osterweiterung Englisch zur dominanten Sprache in Brüssel wurde. Das wird auch so bleiben – egal wie das Referendum am 23. Juni ausgeht. Das Esperanto-Englisch ist die vorherrschende Sprache.

Wenn man den Umfragen glaubt, gilt der Brexit inzwischen als reale Möglichkeit. Musste es der britische Regierungschef David Cameron wirklich so weit kommen lassen?

Ich hoffe natürlich, dass das Pro-EU-Lager gewinnt. Aber Cameron hat wegen des Europa-Streits bei den britischen Konservativen den historischen Fehler gemacht, sich überhaupt auf ein Referendum einzulassen. Als entscheidender Nachteil für Camerons Anti-Brexit-Kampagne hat sich erwiesen, dass er von dem früheren Londoner Bürgermeister Boris Johnson unmittelbar nach dem EU-Gipfel vom Februar Gegenwind bekam...

...damals handelte Cameron heraus, dass Sozialleistungen für EU-Ausländer gekürzt werden können...

Dies spielt inzwischen in den Kampagnen der beiden Lager kaum noch eine Rolle. Im Mai sah es in den Umfragen noch nach einem „Ja“ zur EU aus, weil da die wirtschaftlichen Vorteile der Union im Vordergrund standen. Inzwischen hat sich die Stimmung leider gedreht, weil die Frage der Einwanderung zum beherrschenden Thema geworden ist. Jetzt lässt sich der Fehler, eine Volksabstimmung abzuhalten, nicht wieder korrigieren, egal wie das Referendum ausgeht. Falls sich die Briten mit 51 Prozent für „Remain“ aussprechen sollten, dann wäre das unterm Strich zwar ein Votum für die EU. Aber damit wäre das Problem noch nicht gelöst, das sich aus der negativen Einstellung der Briten zur Europäischen Union ergibt. Dafür müsste das „Remain“-Lager schon um die 60 Prozent erreichen.

Das britische Boulevardblatt „Sun“ hat gefordert, dass sich die Briten beim Referendum „vom diktatorischen Brüssel befreien“ sollten. Was sagen Sie dazu?

Ich habe gerade meine osteuropäischen Kollegen aus den Visegrad-Staaten in Prag getroffen. Dabei habe ich ihnen scherzhaft gesagt, dass sie gelegentlich Brüssel immer noch mit Moskau verwechseln. Das war nicht ganz ernst gemeint. In Großbritannien gehört es aber zum bitteren Ernst der Brexit-Kampagne, dass dort das Zerrbild einer allmächtigen EU gezeichnet wird. In Großbritannien fällt das auf einen fruchtbaren Boden. Es ist gefährlich, wenn man Europa mit dem Dritten Reich vergleicht, wie es Boris Johnson getan hat. Ich hoffe, dass die Ermordung der britischen EU-Befürworterin Jo Cox die Tat eines psychisch Kranken ist, auch wenn der Täter „Großbritannien zuerst“ gerufen hat. Hinzu kommt, dass in Großbritannien viele Menschen Europa in erster Linie als einen Markt und weniger als eine Wertegemeinschaft betrachten. Viele Briten haben zudem immer noch im Hinterkopf, dass ihr Territorium im Krieg nie besetzt wurde und dass eine derartige Unterwerfung für alle Zeit ausgeschlossen sein soll. Aus dieser Sicht der Dinge spricht auch eine nostalgische Erinnerung an die Zeit, als Großbritannien noch eine Weltmacht war.

Was würde ein Brexit für Großbritannien bedeuten?

In Großbritannien glauben offenbar viele Menschen, dass es keinen großen Unterschied macht, ob sie nun für oder gegen den Austritt aus der EU stimmen. Das ist falsch. 2,3 Millionen Arbeitsplätze hängen auf der Insel von den britischen Exporten in die EU ab. 55 Prozent der Importe in Großbritannien stammen aus der Europäischen Union.

Angesichts dieser Größenordnung würde ein Brexit erhebliche Folgen haben. Allein die Tatsache, dass Großbritannien bei einem Austritt nicht mehr Teil des europäischen Binnenmarktes wäre, würde zu Einbußen in Milliardenhöhe führen. Wenn Großbritannien aus der EU austreten und trotzdem am Binnenmarkt teilnehmen will, dann muss London einen Preis dafür zahlen. Großbritannien kann zwar wie die Schweiz am Binnenmarkt teilnehmen, aber nicht mehr über die Regeln mitentscheiden, die in diesem Markt gelten. Auch in Fragen der inneren Sicherheit würde London bei einem „Nein“ zur EU viel verlieren. Großbritannien profitiert von der Zusammenarbeit der Europäer bei der Bekämpfung des Terrors und der Kriminalität.

Wären Nachverhandlungen möglich, die den Briten selbst im Fall eines Brexit-Votums den Verbleib in der EU sichern könnten?

Nachverhandlungen sind keine Option – allein schon deshalb, weil man das demokratische Votum achten muss. Ein Brexit wäre zwar katastrophal, aber es wird dann keinen dieser europäischen Kompromisse geben, bei dem sich doch noch eine Hintertür für die Briten öffnet. Wenn sich die Briten für den Brexit entscheiden, dann ist der Brexit Realität.

Was Asselborn von der Idee eines "Kerneuropa" hält

Der Chef der Anti-EU-Partei Ukip, Nigel Farage, wirbt in London für den Austritt aus der Gemeinschaft.
Der Chef der Anti-EU-Partei Ukip, Nigel Farage, wirbt in London für den Austritt aus der Gemeinschaft.

© dpa

Würde ein Austritt Großbritanniens das Ende der EU bedeuten, wie wir sie heute kennen?

Erstens wäre Europa in diesem Fall wegen der außenpolitischen Bedeutung Großbritanniens strategisch geschwächt. Zweitens wäre auch das wirtschaftspolitische Gewicht der EU geringer, weil der Binnenmarkt schrumpfen würde. Und drittens würde mit dem Wegfall Großbritanniens eine Debatte darüber entbrennen, wer künftig für die britischen Nettobeiträge in der EU aufkommt. Vielleicht liegt gerade in einer solchen Diskussion aber auch eine Chance. Wir könnten dann das System der Einnahmen im EU-Haushalt grundlegend erneuern.

Sie wollen sich zwei Tage nach dem Referendum in Berlin mit Ihren Amtskollegen aus Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien und den Niederlanden treffen. Welchem Zweck dient die Begegnung der sechs europäischen Gründerstaaten?

Falls die Briten für den Brexit stimmen sollten, wird es bei dem Treffen zwei Botschaften geben müssen: Wir würden uns zwar eingestehen müssen, dass Europa geschwächt ist. Der Austritt Großbritanniens wäre ein gravierender Einschnitt, aber trotzdem müsste bei einem Brexit das europäische Friedensprojekt fortgesetzt werden. Wir dürfen uns nicht aus der politischen Verantwortung stehlen, falls Großbritannien die EU verlassen sollte – und zwar im Interesse der Menschen, die ins 22. Jahrhundert hineinwachsen werden. Die Botschaft wird also lauten: Nicht weniger, sondern mehr Europa.

Sollten dann einige Länder wie die europäischen Gründerstaaten vorangehen?

Ein Kerneuropa, bei dem einige Länder ausgeschlossen wären, ist keine ideale Lösung. Andererseits wird auf uns so oder so eine Debatte zukommen, wie wir die Solidarität untereinander definieren. Egal wie das Referendum in Großbritannien ausgeht, müssen die Europäer die grundsätzliche Frage beantworten, in welchen Bereichen die EU unbedingt agieren muss. Die Menschen erwarten viel von Europa – auf dem Arbeitsmarkt, in der Umweltpolitik, im Kampf gegen den Klimawandel und den Terrorismus.

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat gesagt, dass die Europäer als Antwort auf einen Brexit nicht einfach mehr Integration fordern könnten. Sind Sie einverstanden?

Es wäre in der Tat falsch, jetzt eine Debatte über EU-Vertragsänderungen anzuzetteln oder die Kompetenzen der EU-Kommission, des Europaparlaments und der Mitgliedstaaten neu auszuhandeln. Dennoch finde ich die Aussage von Herrn Schäuble widersprüchlich. Europa ist ein Projekt, das wächst. Entweder es wächst zusammen, oder es wächst auseinander. Wenn in der EU das Gemeinschaftsgefühl verloren geht, verliert Europa auch seinen entscheidenden Wesenszug. Was die weitere Integration anbelangt, möchte ich nur daran erinnern, dass Deutschland und Frankreich bei den gemeinsamen Regierungskonsultationen in Metz im April vereinbart haben, bis Ende des Jahres einen gemeinsamen Beitrag zur Vertiefung der Währungsunion vorzulegen. Zugegeben: Wir dürfen die Vertiefung der Währungsunion nicht überstürzen. Es wäre am Ende kontraproduktiv, wenn man eine Abgabe von Kompetenzen des Bundestages oder der französischen Nationalversammlung bei der Währungsunion ins Gespräch bringt, ohne am Ende auch liefern zu können.

Eines der Zugeständnisse der EU-Partner an die Briten besteht darin, dass London bei der „immer engeren Union“ nicht mitmachen muss.

Es ist Cameron gelungen, damit politisch zu punkten. Auf dem Kontinent bringt uns das aber nicht voran. Noch einmal: Europa muss sich um die Dinge kümmern, welche die Nationalstaaten nicht mehr alleine bewältigen können. Wenn wir künftig nur noch zwischenstaatliche Lösungen anbieten würden, dann befänden wir uns auf dem Holzweg.

Wie groß ist die Gefahr eines Dominoeffektes für andere EU-Staaten wie die Niederlande und Frankreich, falls die Briten für den Brexit stimmen sollten?

Auch wenn die Menschen in den Niederlanden traditionell Richtung Großbritannien schauen, mache ich mir grundsätzlich nicht allzu viele Sorgen, dass das Beispiel eines Brexit in EU-Gründerstaaten wie den Niederlanden oder Frankreich Schule macht. Gerade in den Niederlanden weiß man wie in den übrigen Benelux-Ländern auch den Wert der EU sehr wohl zu schätzen.

Und welche Auswirkungen hätte ein EU-Austritt auf die Mitglieder in Osteuropa, die 2004 zur EU gestoßen sind?

Es ist nicht auszuschließen, dass ein Brexit zu einem Dominoeffekt in Osteuropa führt. Man sollte nicht vergessen, dass Großbritannien seinerzeit zu den Altmitgliedern in der EU gehört hat, welche die Osterweiterung massiv vorangetrieben haben. Damals ging es den Briten vor allem darum, den gemeinsamen Markt zu erweitern – und nicht darum, die politische Einigung des Kontinents zu befördern. Heute frage ich mich manchmal, ob es nicht ein stilles Einverständnis zwischen Cameron und dem Vorsitzenden der polnischen Regierungspartei PiS, Jaroslaw Kaczynski, gibt. Beide scheinen in ihrer kritischen Haltung gegenüber der EU gemeinsame Sache zu machen.

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