zum Hauptinhalt
Joachim Gauck,  Bundespräsident von 2012 bis 2017.

© action press/Chris Emil Janssen

Joachim Gauck auf der Sicherheitskonferenz: Erst ein monumentaler Weckruf – und dann die Schlummertaste?

Der frühere Bundespräsident sieht ein Deutschland zwischen Selbstüberschätzung und Selbstverzwergung im Ukrainekrieg.

Joachim Gauck kam einige Jahre zu früh nach München. Vor neun Jahren hatte der damalige Bundespräsident die Deutschen aufgefordert, mehr internationale Verantwortung zu übernehmen. Und die „Kultur der Zurückhaltung“ nicht als „Philosophie des Heraushaltens“ zu verklären.

Im Ausland, auch das sagte Gauck bei der Sicherheitskonferenz 2014, werde diese deutsche Haltung als „Drückebergerei“ wahrgenommen. Der Bundespräsident wollte den Deutschen Mut machen, Vertrauen in ihre Demokratie und in ihre Streitkräfte zu haben. Mehr Verantwortung sollten sie nicht in erster Linie als „mehr zahlen, mehr schießen und mehr Ärger“ verstehen.

Am Freitag ist Gauck an den Tatort zurückgekehrt. Wie sieht er Deutschland heute, ein Jahr nach dem russischen Angriff auf die Ukraine? Hat sein Appell mit Verspätung Früchte getragen?

Er lobt den Kanzler erst mal fast überschwänglich. Olaf Scholz‘ Zeitenwende-Rede im Bundestag nennt er „monumental“. Und einen „Weckruf“. Nicht ganz so zufrieden ist er mit den Taten danach.

Die entscheidende Frage sei, ob eine „aufgeweckte Politik auf den Weckruf folgt. Man kann ja auch die Schlummertaste drücken.“ Nach so einer Rede „erwartet man, dass Taten folgen. Und da gab es Momente, wo ich um Vertrauen ringen musste“, kommentiert Gauck die Regierungspolitik.

Die Debatten über den Krieg und Deutschlands Verantwortung betrachtet er als ein „Nebeneinander von Selbstüberschätzung und Selbstverzwergung“.

Er wolle ein „vereinigtes Europa gegen Aggression“ sehen. „Für Demokraten ist es selbstverständlich und ein Gebot der Menschlichkeit, dass man Überfallenen beisteht“, sagt er. „Normalerweise müsste die Nato dem Überfallenen beistehen. Es gibt Gründe, warum wir das nicht tun. Wir wollen keinen Weltkrieg. Das sehe ich ein.“

Mentalitäten verändern sich signifikant langsamer als das Denken im Kopf

Joachim Gauck

Zugleich empfindet er es als „bewegend zu sehen, dass Menschen anderswo, wo Freiheit keine Selbstverständlichkeit ist, alles geben für Freiheit“. Er glaubt, dass dieser Funke auf die Generation der jüngeren Deutschen überspringe.

Die ältere Generation – seine Generation – sei da oft noch in alten Mentalitäten verhaftet, beklagt er. Besonders in Intellektuellenkreisen erkennt er „immer noch die deutsche Neigung, rote Linien zu ziehen. Aber auch das geht zurück.“

Mentalitäten, erläutert der frühere Pfarrer Gauck, „verändern sich signifikant langsamer als das Denken im Kopf.“ Mehr als 30 Jahre nach der Einheit wirken Mentalitätsunterschiede zwischen Ost und West fort. „Das hat nichts mit Charakterschwäche zu tun.“ Es mache einen Unterschied, ob Menschen „als freie Bürger oder Untertanen aufwachsen“.

Und Russland? Die Gesellschaft dort hatte „noch nie eine erlebte Phase einer funktionierenden Demokratie“.

Nordstream 2, trotz Annexion der Krim

Auch jetzt möchte Gauck die deutsche Debatte vorantreiben – wie vor neun Jahren. Seine Rede damals „kam vielleicht zu früh“. Der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier und die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hatten sich auf der Sicherheitskonferenz 2014 ganz ähnlich geäußert. „Aber es folgte nichts daraus“, beklagt Gauck.

Die Gaspipeline Nordstream 2 wurde dennoch gebaut, trotz Annexion der Krim, trotz Krieg in der Ostukraine, trotz der Warnungen halb Europas, dass die Erhöhung der deutschen Abhängigkeit von russischem Gas fatal enden könne.

„Angela Merkel verfolgte einen anderen Politikansatz“, sagt Gauck leicht distanziert. „Und der hatte in Deutschland lange Konjunktur.“ Ihr Streben nach einer Verhandlungslösung im Minsk-Prozess brachte keinen Erfolg.

Welchen Kriegsausgang erwartet er? Gauck ist „nicht so super optimistisch angesichts der Überlegenheit Russlands und des Zögerns im Westen, der Ukraine die nötigen Waffen zu liefern.“

Gauck kritisiert Schwarzer und Wagenknecht

Noch einmal kritisiert er die Aufrufe zu einer raschen Verhandlungslösung, die auf Kosten der Ukraine gehen würde. Freilich ohne Sahra Wagenknecht, Alice Schwarzer oder Jürgen Habermas beim Namen zu nennen. „Ich bitte darum, dass nicht die deutschen Intellektuellen die großen Linien schreiben, sondern dass die Menschen in der Ukraine entscheiden.“

Gauck fordert mehr Selbstvertrauen in die Kräfte des Westens und um „Resilienz“ gegen Putins Drohungen mit seinem Atomwaffenarsenal. „Wenn Putin schon solche militärischen Probleme mit einem einzigen Nicht-Nato-Land hat, wird er es sich vier bis fünf Mal überlegen, bevor er imperiale Wünsche verfolgt, die die Nato tangieren.“

Die Aufrufe zu Verhandlungen „haben gemeinsam, dass sie eine moralische Pflicht proklamieren, jetzt den Waffenstillstand auszurufen“, meint Gauck. „Ja, es gibt eine Pflicht, die eigene Bevölkerung zu schützen.“ Aber es sei „eine Anmaßung, wenn deutsche Intellektuelle der Ukraine Rat geben, wann der Moment zu Kompromissen gekommen ist.“

Er konstatiert ein geringes Wissen der Deutschen darüber, wie ihre östlichen Nachbarn fühlen und denken. Da fehle es oft an Einfühlungsvermögen.

Am Vorabend habe er auf einem Wirtschaftsempfang zufällig „den Herrn getroffen, der die deutschen Gasspeicher verkauft hat. Es war ihm nicht angenehm, dass ich ihn darauf angesprochen habe.“

Was hält er vom Ruf nach deutscher Führung in Europa? Die Deutschen hätten wegen ihrer Geschichte eine „Abneigung gegen einen Führer“. Doch „auch die liberale Demokratie braucht Führung. Wenn eine Regierung die Motive für ihr Handeln kommunikativ teilt, wachen die Bürger sofort auf.“

Was soll man den Opfern in der Ukraine sagen, die fragen, warum Deutschland nicht mehr tue, um ihrem Land zu helfen? „Sagen sie ihnen: Wir lernen noch.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false