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Die Sanitäter fordern mehr Rechtssicherheit - denn nicht immer ist im Notfall ein Arzt zur Stelle.

© Stephan Jansen/dpa

Reform für Notfallsanitäter kommt nicht vom Fleck: Kein Rezept gegen Rechtsunsicherheit

Notfallsanitäter brauchen – darin sind sich alle einig – mehr Rechtssicherheit. Doch wegen Kompetenzrangeleien kommt die Reform nicht voran.

Im Grunde sind sich alle einig. Notfallsanitäter, die meist als erste am Unfallort oder bei Patienten in bedrohlicher Situation sind, benötigen „mehr Rechtssicherheit bei der Berufsausübung“. So steht es im Entwurf für Änderungen am Notfallsanitätergesetz (NotSanG), den Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bereits Ende Juli vorgelegt hat. Das sieht auch der CDU-Gesundheitspolitiker Alexander Krauß so, er drückt das Anliegen noch drastischer aus: „Wer anderen Menschen hilft, darf nicht das Gefühl haben, mit einem halben Bein im Gefängnis zu stehen.“

Wie sich dieses gemeinsame Ziel erreichen lässt, ist jedoch aufs Heftigste umstritten – und so geht es mit dem Vorhaben auch nach dem Kabinettsbeschluss keinen Zentimeter voran. Die für den Rettungsdienst zuständigen Länder halten nichts von Spahns Vorschlägen. Die geplante Änderung im Notfallsanitäter-Gesetz sei „in erheblichem Maße geeignet (…) erneute Rechtsunsicherheit hervorzurufen“, hieß es im Bundesrat, der sich vor zwei Wochen zuletzt mit dem Thema befasst hat. Und der Deutsche Bundesverband Rettungsdienst (DBRD) erteilte dem Lösungsvorschlag des Ministeriums schon im August eine geharnischte Abfuhr, bei der es geblieben ist. Statt den Betroffenen endlich mehr Rechtssicherheit zu geben, drohe eine Verschlimmbesserung der bisherigen Situation, sagte der Verbandsvorsitzende Marco König dem Tagesspiegel Background Gesundheit & E-Health.. Wenn sich Spahn und die Union damit durchsetzten, werde das komplette Ausbildungsziel für den neuen Beruf des Notfallsanitäters „ad absurdum geführt“.

Eigenverantwortliches Handeln nur, wenn kein Arzt erreichbar ist

Worum geht es? Nach Paragraf 4 des NotSanG soll die neue Berufsgruppe der Notfallsanitäter (vormals: Rettungsassistenten) durch ihre dreijährige Ausbildung dazu befähigt werden, bei der Erstversorgung von Patienten auch „eigenverantwortlich“ invasive Maßnahmen zu ergreifen. Bisher dürfen Sanitäter das lediglich unter Rückgriff auf einen „rechtfertigenden Notstand“ – also nur in Ausnahmesituationen, solange kein Arzt vor Ort und das Leben des Patienten akut gefährdet ist. Spahn will der besseren Ausbildung Folge tragen und der Berufsgruppe bis zum Eintreffen des Notarztes das, was sie kann, nun auch regelhaft erlauben. Doch weil sich die Notärzte sträuben und in einer solchen Erlaubnis ein Einfallstor für Kompetenzübertragung an geringer Qualifizierte sehen, findet sich in seinem Entwurf nun eine Relativierung, die aus Sanitätersicht alle Hoffnung auf mehr Rechtssicherheit gleich wieder zunichte macht. Um invasiv handeln zu dürfen, müssten solche Maßnahmen nicht nur erforderlich sein, um einen „lebensgefährlichen Zustand“ oder „wesentliche Folgeschäden“ von Patienten abzuwenden, heißt es jetzt in dem Gesetzesvorhaben. Solche Maßnahmen dürften auch nur selbstverantwortlich erfolgen, wenn „eine vorherige ärztliche oder auch teleärztliche Abklärung nicht möglich“ sei.

Was bedeutet das aber im konkreten Fall? Wie lange und wie intensiv müssen die Ersthelfer versuchen, einen Arzt zu erreichen, bevor sie sich an womöglich lebensrettende Maßnahmen machen dürfen? Was, wenn durch die erzwungene Verzögerung und Nichtintervention für die Patienten schwerer Schaden entsteht? Und wie sollen Notfallsanitäter mit der in vielen Situationen nahezu unlösbaren Abwägung klarkommen, was wichtiger ist: persönliche  Absicherung oder beherztes Eingreifen mit allem, was sie können und gelernt haben?

Ständig „mit angezogener Handbremse“

Viele seiner Kollegen arbeiteten wegen solcher Unsicherheit nur „mit angezogener Handbremse“, klagt Verbandschef König. Sie könnten sich nicht voll und ganz auf die Notsituation konzentrieren, hätten immer im Hinterkopf, dass es für sie arbeitsrechtlich und möglicherweise auch strafrechtlich eher problematisch ist, mehr zu tun als zu wenig. Das könne gefährlich sein für Patienten, die schneller Hilfe bedürften – auch wenn diese meist nicht wüssten, was ihnen in ihrer Notsituation vorenthalten werde. Und warum das alles? Es gebe bei den Notärzten nach wie vor „Ängste, dass man ihnen was wegnimmt“. Dabei, so versichert König, gehe es gar „nicht darum, ein notarztfreies System zu schaffen“. Das Ziel sei einzig und allein, Rechtssicherheit zu schaffen, bis Ärzte die Versorgung übernehmen könnten.

Es rieche nach standesrechtlichen Vorbehalten, findet auch die Grünen-Abgeordnete Kirsten Kappert-Gonther. Und über denen drohe das Interesse der Patienten unter die Räder zu kommen. „Wir brechen uns keinen Zacken aus der Krone, wenn wir anerkennen, dass Notfallsanitäter für Notfallsituationen bestens ausgebildet sind – und mitunter mehr können als Ärzte mit wenig Erfahrung“, sagt die gelernte Humanmedizinerin und Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie dem Tagesspiegel Background. Doch wenn sie derartiges in Debatten mit Ärzten äußere, sei das „oft noch immer ein großer Aufreger“. Dank einer deutlich verbesserten und auch längeren Ausbildung im Vergleich zu den vormaligen Rettungsassistenten seien Notfallsanitäter „hochqualifiziert für Notfallsituationen“, betont Kappert-Gonther. Sie beherrschten Reanimation, das Intubieren, den sachgerechten Umgang mit Schwerstverletzten und Menschen in Schockzuständen. Dies den Patienten vorzuenthalten, wenn auf die Schnelle kein Arzt erreichbar sei, wäre „unverantwortlich“.

Verbandschef König ist vorsichtiger mit Kompetenz-Vergleichen.  Er unterstelle schon, dass ausgebildete Ärzte über weitergehendere Fähigkeiten als Notfallsanitäter verfügten, sagt er. Aber wirklich benötigt würden Mediziner lediglich bei jedem zehnten Notfalleinsatz. In 90 Prozent der Fälle genügten, wie statistische Auswertungen ergeben hätten, die Kenntnisse der Notfallsanitäter vollauf. Insofern sei ihm auch unverständlich, warum man mit der wertvollen Notarzt-Ressource nicht sorgsamer umgehe. Es könne beziehungsweise werde „zu einer deutlichen Zunahme von Notarzteinsätzen kommen“, wenn die Notfallsanitäter vor jeder invasiven Maßnahme einen Mediziner anfordern müssten, warnt der Verband in seiner Stellungnahme.

Erhoffte Entlastung für Notärzte blieb aus 

Und wozu dann die aufwändige Qualifizierung von Notfallsanitätern? Dadurch seien „Einsparpotentiale bei Krankenhausbehandlungen und weitere Einsparungen durch eine Vermeidung unnötiger Notarzteinsätze zu erwarten“, lautete der Vorsatz für die Reform der Ausbildung im Februar 2013. Aufgrund der Rechtsunsicherheiten sei dieser Effekt aber noch immer nicht eingetreten, so der Verbandsvorsitzende. Im Gegenteil: Die Zahl der Standorte für Notärzte sei weiter gestiegen. Und wegen des Medizinermangels ließen sich viele davon nicht mehr besetzen.

Die Länder, die für die Notfallrettung zuständig seien, sähen das sehr wohl, sagt König. Seit einer gemeinsamen Initiative von Rheinland-Pfalz und Bayern im September 2019 kämpften sie darum, die Notfallsanitäter per Ausnahmeregelung zu heilkundlichen Tätigkeiten zu berechtigen. Bisher aber ohne Erfolg. „Warum der Bund mit ihren Empfehlungen nicht respektvoller umgeht, ist mir ein Rätsel.“

Die Erlaubnis zur Anwendung invasiver Maßnahmen werde mit Spahns Entwurf nun sogar noch „enger gefasst als unter der aktuell geltenden Regelung des rechtfertigenden Notstands“, meint das Deutsche Rote Kreuz (DRK). Mit der Formulierung, dass „die Ausübung der heilkundlichen Tätigkeit im Nachhinein als unzulässig zu bewerten“ wäre, wenn sich zeigen sollte, „dass etwa ein lebensbedrohlicher Zustand nicht vorgelegen hat“, werde eher „eine neue Normierung der aktuellen Gegebenheiten mit allen damit einhergehenden Rechtsunsicherheiten“ erreicht, betont der Paritätische Gesamtverband.

Eigentlich müssten zwei weitere Gesetze geändert werden

„Der Notfallsanitäter gerät in den Gewissenskonflikt, ob er invasiv tätig werden soll oder auf das Eintreffen oder zumindest die ärztliche Abklärung warten soll“, beschreibt der Sanitäterverband das Dilemma. Wenn der Satz mit der „vorherigen Abklärung“ gestrichen würde, wäre viel gewonnen. Dabei bedürfte es für eine saubere Lösung eigentlich aber noch einer Änderung von zwei weiteren Paragraphenwerken: des Heilpraktiker- und des Betäubungsmittelgesetzes. In ersterem findet sich der sogenannte Arztvorbehalt, wonach nur ausgebildete Mediziner invasiv tätig sein dürfen. Im Betäubungsmittelgesetz ist geregelt, dass Morphium & Co. nur von Ärzten, Zahnmedizinern und Tierärzten verabreicht werden dürfen. 

Gegen starke und stärksten Schmerzen gebe es zur Gabe von Morphium in Notsituationen kaum eine Alternative, betont König. Und tatsächlich sei das bei Reanimation und allergischen Schocks verabreichte Adrenalin weit gefährlicher. Der Grund, warum die Betäubungsmittel einem Callback-Verfahren mit Ärzten unterlägen, sei einzig das Suchtpotenzial. Dabei sei im Rettungswagen derartiger Missbrauch weit weniger möglich als im Arzneischrank von Krankenhäusern. Bei den Einsätzen gebe es ein „Acht-Augen-Prinzip“. Wer sich da mit Morphium versorgen wolle, müsse schon mit erheblicher krimineller Energie vorgehen.

Bundesärztekammer hat schon eingelenkt

Dass man für die Notfallsanitäter bei all dem Ärger noch zwei weitere Gesetze aufschnürt, glaubt im Ernst keiner. Zumal die Bundesärztekammer schon vorsichtig eingelenkt hat. Sie hat bereits empfohlen, den einschränkenden Passus mit der vorherigen ärztlichen Abklärung bei invasiven Maßnahmen zu streichen. Wichtig ist der Standesvertretung nur, dass die Eingreifenden „diese Maßnahmen in ihrer Ausbildung erlernt haben und beherrschen“ und dass „die Maßnahmen jeweils erforderlich sind, um einen lebensgefährlichen Zustand oder wesentliche Folgeschäden von der Patientin oder dem Patienten abzuwenden“.

Insofern hofft der Chef des Sanitäterverbandes, dass eine Reform mit mehr Rechtssicherheit in den nächsten Monaten doch noch gelingt. Die schlechtere Alternative wäre, so König, wenn die Koalitionäre die Sache „bis zur nächsten Legislatur nicht mehr anfassen“ . Dass der Gesetzentwurf in der bisherigen Form durchgeht, mag sich König dagegen nicht vorstellen. „Das wäre respektlos und beschämend“, sagte er dem Tagesspiegel Background. Wenn es tatsächlich so komme, brauche sich keiner zu wundern, wenn der Beruf des Notfallsanitäters an Attraktivität verliere und „wir in eine ähnlich schlimme Situation wie in der Pflege geraten“. 

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