zum Hauptinhalt
Das Wahlrecht muss reformiert werden. So verlangt es das Bundesverfassungsgericht und hat der Politik dafür vor drei Jahren bis Ende Juni 2011 Zeit gegeben. Diese Frist wird aber nicht eingehalten.

© dpa

Wahlrecht: Keine Änderung des Wahlrechts bis Ende Juni

Das Bundesverfassungsgericht verlangt ein neues Wahlrecht bis Ende des Monats. Doch die Politik wird diese Vorgabe nicht erfüllen können. Wie kam es dazu – und wie könnte es weitergehen?

Der FDP-Bundestagsabgeordnete Stefan Ruppert hat einen schönen Satz auf seiner Website stehen: „Es ist ein Erfolg, wenn es breite Mehrheiten für Gesetze gibt, weil das die Akzeptanz staatlichen Handelns stärkt.“ Bei der vom Bundesverfassungsgericht verlangten Korrektur des Wahlrechts zum Bundestag ist dieser Wunsch bisher nicht eingetreten. Rupperts Partei hat ihren Anteil daran, wie die anderen auch. Denn die von Karlsruhe beim Urteil 2008 gesetzte Frist für die Änderung läuft Ende Juni ab, ohne dass der Bundestag das Wahlrecht verändert hat. Von der Regierungskoalition liegt noch immer kein Entwurf vor, während es von der Opposition drei Entwürfe gibt, doch die Reformvorschläge von SPD, Grünen und Linken sind nicht kompatibel. Aus Karlsruhe ist zu hören, dass die Richter ungnädig sind, weil ihre Frist verstreicht. Zur Wahrheit gehört freilich auch die nicht ganz unbegründete Vermutung, dass Karlsruhe der Politik mit dem Reformauftrag ein Problem geschaffen hat, das größer ist als das Problem, das zum Urteil führte.

Dieses Problem versteckt sich hinter dem Begriff „negatives Stimmgewicht“. Es ist eine Begleiterscheinung des Bundestagswahlrechts – jener Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahl, die 1949 eingeführt wurde, um Vorteile beider Systeme zu verbinden. Es kommt im Gegensatz zum Mehrheitswahlrecht kleineren Parteien entgegen, und es gibt den Parteiführungen weniger Macht als das reine Verhältniswahlrecht. Negatives Stimmgewicht bedeutet, dass (über die verbundenen Parteilisten der Länder hinweg) ein Mehr an Stimmen für eine Partei ein Weniger an Mandaten bedeuten kann, oder umgekehrt: weniger Stimmen, mehr Mandate. Karlsruhe hat verlangt, dass dieses Phänomen verschwindet. In dem Zusammenhang spielen auch die Überhangmandate eine Rolle, die entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland über die Erststimme mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach dem Verhältnis der Zweitstimmen eigentlich an Sitzen für dieses Land zustünden. Diese Überhangmandate (die im Bundestag – im Gegensatz zu den Landtagen – bisher nicht ausgeglichen werden) hat Karlsruhe aber nicht moniert.

Mögliche Folgen des negativen Stimmgewichts lassen sich allerdings nur durch isolierte Beispielrechnungen oder durch den extrem seltenen Fall einer Nachwahl in einem einzelnen Wahlkreis wie in Dresden im Jahr 2005 verdeutlichen. Hier war es möglich, das negative Stimmgewicht für taktisches Wählen zum Vorteil einer Partei zu nutzen. Wie sich das negative Stimmgewicht aber in der Gesamtschau einer Bundestagswahl auswirkt, ist nicht ganz so klar. Jedenfalls ist taktisches Wählen am Wahlsonntag selbst kaum berechenbar. Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann, hat das Problem in der Debatte am 26. Mai so eingeschätzt: „Das negative Stimmgewicht hat nur eine begrenzte Wirkung. Insgesamt können damit bundesweit ein oder zwei Mandate verschoben werden, nicht mehr. Unsere verbundenen Landeslisten sind quasi kommunizierende Röhren, die das immer ausgleichen.“ Andere Stimmen setzen die Wirkung allerdings höher an.

Worauf setzt die SPD bei ihren Plänen? Erfahren Sie mehr dazu auf der nächsten Seite.

Die SPD setzt mit ihrem Entwurf vor allem bei den Überhangmandaten an, die sie künftig ausgleichen will, damit die Sitzverteilung im Bundestag der tatsächlichen bundesweiten Stimmverteilung möglichst nahekommt. Damit ist das negative Stimmgewicht aber nicht beseitigt.

Die Union hat dafür vorgeschlagen, die bundesweite Verbindung der Landeslisten einer Partei aufzuheben und jedes Bundesland als eigenes Wahlgebiet anzusehen. Damit würde das negative Stimmgewicht wohl weitgehend vermieden. Überhangmandate aber sollen nach dem Wunsch der Union bleiben (sie profitiert derzeit am ehesten davon). Ein Ausgleich ist in ihren Vorstellungen nicht vorgesehen. Dieser könnte zwar bundesweit proportional erfolgen, doch das würde den Bundestag wohl erheblich aufblähen. Ein Ausgleich nur auf Landesebene wäre einfacher, würde aber die Gewichtsverhältnisse zwischen den Ländern verschieben – Länder mit vielen Überhangmandaten wären damit überproportional vertreten. Union und SPD passen beim Wahlrecht also nicht zusammen. Der Grünen-Vorschlag wird breit abgelehnt, weil er im Extremfall zum Wegfall von Direktmandaten einer Partei führt.

Die FDP, die den Plan der Union zunächst mittrug (und Schwarz-Gelb kann das Wahlrecht alleine ändern), hat aber späte Bedenken bekommen. Die Trennung der Landeslisten könnte nämlich für kleinere Parteien in den kleineren Ländern das Problem schaffen, dass ihre Stimmen dort unter den Tisch fallen und sich das bundesweit zu einer deutlich geringeren Mandatszahl aufschaukelt als im System mit den Listenverbindungen.

So bietet der Bundestag nun das Bild eines Parlaments, das sich verrannt hat – zu spät angefangen (das betrifft vor allem die Koalition), keine fraktionsübergreifende Koordinierung, fehlender Wille zum Kompromiss. Stefan Ruppert hofft dennoch auf eine zügige Lösung. Der Vorschlag lautet: Man trennt die Listen, wie es die Union will, erhöht aber die Zahl der Listenmandate für die Wahl 2013 um einige Dutzend (was auf eine indirekte Ausgleichslösung für die weiter bestehenden Überhangmandate hinausläuft und der SPD entgegenkommt). Das Problem des negativen Stimmgewichts wäre zumindest reduziert (es lässt sich möglicherweise im Mischwahlrecht gar nicht völlig beseitigen). Die Sitzverteilung auf die Länder wird nach der jeweiligen Wahlbeteiligung vorgenommen.

Nachwahlen könnten laut Ruppert vermieden werden, indem man den Parteien in den Wahlkreisen Zweitkandidaten vorschreibt (wie in Baden-Württemberg), der Tod eines Direktkandidaten kurz vor der Wahl würde dadurch nicht mehr zu einer Wahlverschiebung wie in Dresden führen. Und in einem zweiten Schritt, so Ruppert, könnte man für die Wahl 2017 das Verhältnis von Direkt- und Listenmandaten neu gewichten, beispielsweise im Verhältnis 40 zu 60. Dazu müssten aber die Wahlkreise völlig neu zugeschnitten werden, was zur Wahl 2013 nicht mehr möglich ist.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false