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Das Grab der getöteten Jessica.

© dpa

Kindesmisshandlung in Deutschland: Falsche Toleranz

Kindesmisshandlung ist in Deutschland noch immer ein alltägliches Phänomen. Mindestens ein Kind pro Tag stirbt hierzulande durch die Hände seiner Eltern. Was läuft da schief?

Von Caroline Fetscher

Die Charité-Mediziner Saskia Guddat (inzwischen verheiratete Etzold) und Michael Tsokos zitieren in ihrer am Donnerstag vorgestellten Streitschrift „Deutschland misshandelt seine Kinder“ einen Arzt, der an ihrer Klinik in der Ausbildung war. Es sei doch in Ordnung, sagte er, wenn er sein eigenes Kind schlage, schließlich sei es „nicht das Kind des Nachbarn“. In Deutschland verliert diese Meinung erst allmählich an Legitimation.

Wer misshandelt Kinder in Deutschland?

Gewalt gegen Kinder geschieht in sämtlichen Milieus, in Plattenbauten wie in Villen. Täter sind statistisch zu gleichen Teilen leibliche Väter und Mütter, oft auch Lebenspartner getrennter Eltern. Erwachsene wissen heute zunehmend, dass diese Gewalt verboten ist. Die Täter hinterlassen jetzt weniger Spuren an Gesicht und Händen. Sie behalten Kinder zuhause oder kleben sogar Fenster mit Folie ab. Wissenschaftlich erwiesen ist, dass gewalttätige Eltern oft an Persönlichkeitsstörungen oder Suchterkrankungen leiden. Frustrationen und emotionale Spannungen lassen sie an Kindern aus, die sie zu privaten Sündenböcken machen. Meist fehlt ihnen das Wahrnehmen des Kindes als eigenständiger Persönlichkeit.

Wie viele Kinder erleiden Misshandlung?

Laut Polizeistatistik werden in Deutschland derzeit jährlich 3600 bis 4000 Minderjährige, oft sehr kleine Kinder, krankenhausreif geschlagen. Auf einen Fall, der bei der Polizei angezeigt wird, kommen, je nach Schätzung unterschiedlicher Institutionen im Kinderschutz, 50 bis 400 ähnlich schwere Fälle von Misshandlung, die nicht angezeigt werden. Im Schnitt werden pro Jahr 60000 Kinder nach einem Unfall in Kliniken eingeliefert. Oft fehlt Ärzten das Wissen, um Symptome von Misshandlungen klar zu erkennen. Deutschlands offizielle Statistik weist 160 getötete Kinder pro Jahr auf, die Dunkelziffer liegt bei mindestens 320 bis 350 getöteten und etwa 200000 misshandelten Kindern pro Jahr. Bundesweit wurden 2012 rund 40000 Kinder vom Jugendamt in Obhut genommen, so viele wie nie zuvor. Geschätzte 60 Prozent der schweren Misshandlungsfälle – vermutlich viel mehr – landen nie vor Gericht. 2013 gaben 22,3 Prozent der Kinder in Deutschland in einer Gewaltstudie an, dass sie von Erwachsenen physische Gewalt erfahren.

Was fügen misshandelnde Täter Kindern zu?

Mehr, als sich viele Leute vorstellen wollen, mehr als die meisten Täter einräumen. Misshandlungen von Kindern reichen von „schlichten“ Klapsen bis zu schweren physischen und psychischen Verletzungen. Kinder, besonders Kleinkinder, ehe sie sprechen können, werden von Tätern, meist Müttern und Vätern, mit heißem Wasser verbrüht, mit Zigarettenkippen verbrannt, erhalten Schläge mit Gegenständen, die Hämatome oder Knochen- und Schädelbrüche hervorrufen. Kinder bekommen Haarbüschel und Kopfhaut ausgerissen („Scalping“), sie werden auf glühende Herdplatten gesetzt, sie werden gebissen, festgebunden. Säuglinge werden so lange geschüttelt, bis schwerste Gehirnschäden oder der Tod eintreten. Kinderschützer bezeichnen solche Delikte als Folter. Juristisch gesehen sind sie Straftaten, die geahndet werden müssen. Darüber hinaus erfahren Kinder emotionale und hygienische Vernachlässigung, seelische Grausamkeit und verbale Entwertungen („du kannst nichts“, Schimpfworte, Flüche), sie werden erschreckenden Situationen ausgesetzt wie dem Einsperren in lichtlose Räume.

Viele, die misshandelt werden, misshandeln später selbst

Welche Folgen hat Gewalt gegen Kinder?

Gewalt gegen Kinder ruft Schäden an Körper, Geist und Seele hervor. Kinder verlieren ihr Urvertrauen, ihr Selbstwert wird reduziert. Körperliche Schäden oder Tod können eintreten. Traumata verursachen auch Konzentrationsschwäche, Depressionen, Aggression und Bindungsunsicherheit. Kinder speichern Bilder der Misshandelnden in der Psyche ab, wo sie zu verfolgenden „Introjekten“ werden, die oft lebenslang weiterwirken. Als Erwachsene entwickeln sie vielfach selbstschädigendes Verhalten wie Drogensucht, sind häufig nicht voll erwerbsfähig und laufen Gefahr, eigenen Nachwuchs zu misshandeln. Es gibt kein „Gewalt-Gen“. Doch es ist wissenschaftlich erwiesen, dass unbearbeitete Traumatisierungen und Tabus von einer Generation an die nächste weitergereicht werden. Die Folgekosten (medizinische und therapeutische Behandlung, Transferleistungen, Kriminalität) tragen die Steuerzahler und die Beitragszahler der Krankenkassen. Amerikanische Studien beziffern solche Kosten für die USA auf zweistellige Milliardensummen pro Jahr.

Wie ist die Gesetzeslage?

Unter der rot-grünen Regierung trat im Dezember 2000 Paragraph 1631, Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches in Kraft, wonach Kinder das Recht auf gewaltfreie Erziehung haben. In den Jahren zuvor war bereits die Gewaltausübung gegen Kinder an Schulen und in Heimen per Gesetz untersagt worden. Bundesweite Aufklärung gab es gleichwohl kaum. Organisationen zum Kinderschutz hatten und haben Scheu, Eltern „mit dem Gesetz zu kommen“. Schwere Misshandlungen von Kindern waren auch schon vor dem Jahr 2000 eine Straftat. Doch selten wurden Eltern, Heimerzieher oder andere zur Rechenschaft gezogen.

Was fordern Experten?

Der deutsche Staat investiert jährlich 7, 5 Milliarden Euro für Hilfen zur Erziehung, etwa für Hausbesuche von Sozialarbeitern in Problemfamilien. Juristen und Mediziner halten einen Großteil davon für fehlinvestiert. Helfer seien oft zu unerfahren oder vom Falldruck überlastet. Experten fordern die Kontrolle der „Freien Träger“, an die Jugendämter die „aufsuchenden Hilfeleistungen“ outsourcen. Juraprofessor Ludwig Salgo, einer der bekanntesten Sachverständigen, bemängelt, dass für die Träger der öffentlichen Jugendhilfe und der kommunalen Jugendämter die Fachaufsicht fehlt, Entscheidungen der Jugendämter „unterliegen daher kaum einer externen Kontrolle“. Das erkennt auch der 14. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, „doch Konsequenzen“, so Salgo, „wurden nicht gezogen“.

Weiter wird seit Jahren gefordert, der Staat solle sein im Grundgesetz festgeschriebenes Wächteramt über die Familien endlich ernst nehmen. Falsche Toleranz mit Tätern müsse beendet, früh greifende Präventionsprogramme ausgebaut müssten werden. Obligatorisch werden sollte, so viele Experten, die rechtsmedizinische wie juristische Fortbildung für alle, die an der „Gewaltfront“ mit Kindern zu tun haben: Sozialarbeiter, Kinderärzte, Staatsanwälte, Familienrichter, Kita-Betreuer, Lehrer. Aufgelöst werden müsse das gesellschaftliche Tabu: Wer seine Sorge um ein Kind meldet, ist kein „Denunziant“, sondern womöglich ein Lebensretter. Oft genannt wird die Forderung, dass es beim Tod eines jeden Kindes, wie in den USA oder Schweden, eine Leichenschaupflicht geben sollte, um Verdachtsfälle entdecken zu können. Auch sollten Kinder nach Gerichtsprozessen nicht wieder den Tätern ausgehändigt werden, wie es noch fast immer der Fall ist. Zentrale Forderung ist, Kitas und Krippen nach skandinavischem Vorbild zum möglichen Zweit-Zuhause zu gestalten, wo Eltern wie Kindern professionelle, kontinuierliche Assistenz geboten werden.

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