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Politik: Kontroverse Positionen der Verfassungsrichter

Vor dem Bundesverfassungsgericht haben die mündlichen Verhandlungen über die Klagen gegen vorzeitige Neuwahlen begonnen. Dabei zeigt sich, dass die Karlsruher Verfassungsrichter recht unterschiedliche Meinungen über das Verfahren haben. (09.08.2005, 15:05 Uhr)

Karlsruhe - In der Verhandlung über eine Neuwahl des Bundestages sind kontroverse Positionen auch in Reihen des Bundesverfassungsgerichts deutlich geworden. Nach den Worten von Verfassungsrichter Udo Di Fabio ist die Einschätzung von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), er habe keine gesicherte Mehrheit mehr, vom Zweiten Senat nur schwer überprüfbar: «Soll das Gericht in eine Beweisaufnahme eintreten?», fragte Di Fabio, der als Berichterstatter für das Verfahren zuständig ist.

Sein Kollege Hans-Joachim Jentsch äußerte dagegen große Skepsis an der öffentlichen Begründung von Bundespräsident Horst Köhler für die Bundestagsauflösung: «Wenn das die Gründe sind, die den Bundespräsidenten bewogen haben, die Einschätzung des Bundeskanzlers hinzunehmen, hätte ich erhebliche Bedenken.» Mit knapper Mehrheit zu regieren, sei «das übliche politische Geschäft». Mit einer Entscheidung wird spätestens Anfang September gerechnet.

Zum Auftakt der Verhandlung hatten die beiden klagenden Bundestagsabgeordneten davor gewarnt, dem Kanzler zu großen Spielraum für die Auflösung des Bundestags zu gewähren. Nach Ansicht des Grünen-Parlamentariers Werner Schulz hat Schröder nach wie vor den Rückhalt der Regierungskoalition. Es sei «ein reiner Verdacht und durch nichts belegt», dass der Kanzler im Parlament keine Mehrheit mehr habe. Bislang sei jeder Gesetzentwurf des Kanzlers von der Koalition im Bundestag unterstützt worden. «Das gefühlte Misstrauen, der pauschale Argwohn sollte nicht Grundlage der Bundestagsauslösung sein.»

Die ebenfalls klagende SPD-Abgeordnete Jelena Hoffmann warf Schröder und der SPD-Führung vor, «Stimmung von oben» für die Neuwahl erzeugt zu haben. Der Versuch, per Neuwahl aus einer schwierigen politischen Situation herauszukommen, sei außerdem «gefährlich populistisch». In ihrer emotional gehaltenen Argumentation sagte Hoffmann zudem: «Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Väter des Grundgesetzes, die Auflösung des Bundestages nur den bloßen Gefühlen des Kanzlers überlassen wollten.» Die Verfassung sei ein viel höheres Gut als eine Neuwahl es wäre.

Nach Ansicht von Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) müssen sich die Verfassungsrichter dagegen an Schröders Einschätzung orientieren. Schröder habe sich nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen einer Mehrheit für seine Politik nicht mehr sicher sein können. Schily verwies auf das Grundsatzurteil des Karlsruher Gerichts von 1983: «Das Gericht hat seine Überprüfungsmöglichkeiten selbst zurückgenommen und den Primat der Politik anerkannt.» Nach dem im Grundgesetz angelegten System der gegenseitigen Kontrolle zwischen Bundestag, Bundeskanzler und Bundespräsident habe sich das Gericht letztlich auf eine Missbrauchskontrolle beschränkt.

In eine ähnliche Richtung gingen die Äußerungen des Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer: Das Gericht befinde sich vor einem sehr komplexen Geflecht politischer, teils auf die Zukunft gerichteter Einschätzungen. Die Frage sei: «Wie weit darf das Bundesverfassungsgericht in fremde Einschätzungsspielräume eindringen?» (tso)

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