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Unbezahlbar? Viele Krankenversicherte sind mit ihren Kassenbeiträgen überfordert.

© imago/Jochen Tack

Krankenversicherte am Limit: Kassen erlassen Schuldnern mehr als eine Milliarde Euro

Per Schuldenerlass in Milliardenhöhe bekamen mehr Bürger Zugang zur Krankenversicherung. Aus der Sicht der Linken ist das Problem damit aber noch lange nicht gelöst.

Innerhalb eines Jahres haben die gesetzlichen Krankenkassen ihren Versicherten mehr als eine Milliarde Euro an Beitragsschulden und Säumniszuschlägen erlassen. Nach einer aktuellen Auflistung der Bundesregierung profitierten davon rund 55 000 Menschen. Schuldenerlass und -ermäßigung summierten sich demnach bis Ende August 2014 auf 231,6 Millionen Euro, die erlassenen Strafzahlungen auf 904,4 Millionen.

Die Zahlen stammen aus der Antwort des Gesundheitsministeriums auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion, die dem Tagesspiegel vorliegt. Und sie verdeutlichen die Dimension eines Problems, das die Vorgängerregierung mit ihrem sogenannten Beitragsschuldengesetz vom Tisch bekommen wollte.

Plötzlich in der Schuldenfalle

Um die Zahl der Nichtversicherten zu reduzieren, war im April 2007 eine Krankenversicherungspflicht eingeführt worden. Wer ihr nicht nachkam, musste bei späterem Beitritt nicht nur seine Beiträge bis zu dem angesetzten Stichtag nachbezahlen, sondern auch hohe Strafzuschläge berappen. Viele landeten so im Laufe der Jahre bei fünfstelligen Summen, die es ihnen unmöglich machten, sich überhaupt noch nachträglich zu versichern.

Um den Überforderten aus der Schuldenfalle zu helfen und den Noch-immer-nicht-Versicherten die finanziellen Hemmnisse beiseite zu räumen, verordnete die Politik den Kassen dann in einer Gesetzeskorrektur befristete Schuldenerlässe und auch deutlich niedrigere Säumniszuschläge. Aus der Sicht von Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz (CDU) ist das Manöver gelungen. „Es ist erreicht worden, dass zahlreiche Personen (...) durch die mit dem Beitragsschuldengesetz gesetzten Anreize Zugang zu einer Krankenversicherung gefunden haben“, schreibt sie. 24 475 Personen hätten sich zwischen Mitte und Ende 2013 neu gesetzlich versichert, ihnen seien die Rückstände vollständig erlassen worden. Weitere 4678 Personen, die bis September 2014 noch dazukamen, hätten von der Schuldenermäßigung Gebrauch gemacht. Und auch bei den Privatversicherern (PKV) habe man im ersten halben Jahr 4500 ehemals Nicht-Versicherte als Neuzugänge verbucht. Das „Problem der Nichtinanspruchnahme eines Krankenversicherungsschutzes und von rückständigen Beitragsschulden“, so Widmann-Mauz, sei „erfolgreich angegangen worden“.

Vor allem kleine Selbständige sind überfordert

Die Linkspartei sieht das anders. „Wir wissen heute schon, dass in Zukunft die Beitragsschulden wieder weiter ansteigen“, sagte ihr Gesundheitsexperte Harald Weinberg dem Tagesspiegel. Vor diesem Problem werde man „so lange stehen, bis wir endlich für alle Versicherten Beiträge erheben, die sie auch zahlen können“. Dies betreffe vor allem „die Gruppe der freiwillig Versicherten und darunter insbesondere die kleinen Selbstständigen“.

Tatsächlich zeigt die Auflistung des Ministeriums, dass sich die Rückstände der gesetzlichen Krankenversicherung weiter erhöht haben. Betrugen sie im Januar 2011 noch knappe 2,35 Milliarden Euro, so waren es im August 2014 schon über 2,48 Milliarden. Und besonders hoch ist der Zuwachs bei freiwillig Versicherten. 2011 standen sie bei den Kassen mit 742 Millionen in der Kreide. Im August 2014 waren es fast 1,7 Milliarden Euro. Ihre Außenstände haben sich in dreieinhalb Jahren somit mehr als verdoppelt.

Privatkassen bieten "Notlagentarif"

Bei der PKV gibt es keinen Schuldenerlass. Wer seine Beiträge dort nicht zahlen konnte, wanderte in einen „Notlagentarif“ mit auch rückwirkend deutlich niedrigeren Beiträgen. Mitte des Jahres befanden sich dort 100 700 Personen. Die Zahl der Beitragsschuldner bei den Privaten reduzierte sich so von 149 000 auf 113 000.

Wie viele Menschen in Deutschland nach wie vor ohne Versicherungsschutz dastehen, weiß das Ministerium nicht. Auch zur aktuellen Zahl der Beitragsschuldner, die nur eine Notversorgung erhalten, gibt es keine Angaben. „Von einem Großteil der Probleme der prekär krankenversicherten Menschen will die Bundesregierung nichts wissen“, folgert Weinberg. „Diese Menschen scheinen der Bundesregierung egal zu sein.“

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