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Helfer unter Druck: Nicht nur, dass ihre Mission im Mittelmeer belastend ist, zusätzlich werden die privaten Rettungsorganisationen verdächtigt, mit den Schleppern gemeinsame Sache zu machen (im Bild eine Rettungsaktion spanischen NGO Proactiva Open Arms vom Februar)

© Emilio Morenatti/AP/dpa

Kritik an Flüchtlingsrettung im Mittelmeer: Ertrinken lassen ist menschenverachtend

Wer agitiert eigentlich gegen wen in der Debatte um die Fluchtroute Mittelmeer? Seit Neuestem stehen wieder die Retter in der Kritik. Ausgerechnet die! Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ariane Bemmer

Die Betten im Krankenhaus sind voll. Hier ein Herzinfarkt, da ein Motorradunfall, ein Mann, der von der Leiter gestürzt ist, eine Raucherlunge, eine Leberzirrhose. Sie haben etwas riskiert und sind gescheitert. Sie konnten sich allerdings darauf verlassen, dass es eine medizinische Infrastruktur gibt, die ihnen aus der Patsche hilft.

Würde jemand den Ärztinnen und Ärzten, den Pflegern und Krankenschwestern die Schuld an den belegten Betten geben? Würde jemand sagen, erst ihre Anwesenheit veranlasste die Menschen, sich auf dem Motorrad in die Kurven zu legen, mehr zu trinken, als gut ist, krebserregendes Nikotin in ihre Lungen zu saugen, auf Leitern zu klettern? Kaum. Wenn es aber um die Rettungsschiffe im Mittelmeer geht, die Flüchtlinge aus dem Wasser ziehen, gibt es diese Debatte. Retten die Retter, oder löst – Stichwort „Pullfaktor“ – ihre Anwesenheit die Flüchtlingsströme erst aus?

Seit Neuestem kommt von einem sizilianischen Staatsanwalt die Anschuldigung hinzu, die Rettungsvereine erhielten Geld direkt von den Schleusern, um die Flüchtlinge auf dem Meer zu übernehmen. Beweise legt er nicht vor, er hat das bisher nur so in den Raum gestellt. Sea-Watch, eine der von ihm angeschuldigten Organisationen, war deshalb Mittwochabend beim Verteidigungsausschuss in Rom. Eine entspannte Sache, sagte Sprecher Ruben Neugebauer danach und nennt die Vorwürfe „Humbug“. Man lebe von Spenden, führe genau Buch, alles nachprüfbar. Man prüfe nun rechtliche Schritte gegen den Staatsanwalt.

Die Flanke ist offen, und der Frust ist groß

Was läuft da? Die Flüchtlingsroute übers Mittelmeer ist Europas offene Flanke, und die Politik hat keine Idee, wie man sie schließen könnte. Also ist jeder Flüchtling, der es von allein nicht schafft, eine gute Nachricht, was natürlich so nicht gesagt wird. Könnte es sein, dass der Frust über die unbefriedigende Situation an den privaten Rettungsinitiativen ausgelassen wird? Schließlich sorgen sie ja mit dafür, und zwar ohne irgendeinen Auftrag als den der erhabenen Moral, dass es immer wieder Menschen nach Europa schaffen, die nicht erwünscht sind.

Während viele andere sich die Hände schmutzig machen. Die Schlepper sowieso. Aber letztlich auch diejenigen, die mit der libyschen Küstenwache über Kooperation reden, denn die Küstenwache selbst wird ebenfalls beschuldigt – und zwar von Informanten, die von der Uno für glaubwürdig gehalten werden –, gemeinsame Sache mit den Schleppern zu machen. Ein bisschen schmutzig werden auch jene, die Aufnahmekapazitäten in Libyen aufbauen wollen, während sie von Zwangsarbeiterlagern und menschenverachtenden Unterbringungen hören. Und dann kommen da diese Enthusiasten und retten vor sich hin und tun noch heilig dabei?

Aber zur Erinnerung: Die privaten Rettungsinitiativen waren erst die Reaktion. Sie wurden oft genug aus nichts mehr als dem Widerwillen gegen das Massensterben im Mittelmeer gegründet. Und der Satz, der immer kommt, wenn ihr Tun infrage gestellt wird, ist auch richtig geblieben: Was ist die Alternative? Wieder ertrinken lassen? Man kann sich dazu entschließen. Das hätte allein in den vergangenen zehn Tagen mehr als 6000 Menschen betroffen. Eine Reaktion, die sich mit den in anderen Zusammenhängen gern zitierten europäischen Werten vereinbaren ließe, ist das natürlich nicht. Ertrinken lassen ist menschenverachtend.

Die Flüchtlinge habe ihre eigenen Motive

Im Übrigen interessiert die Warnung „Ihr könntet ertrinken“ die Flüchtlinge nicht. Sie alle haben ihr Leben auf dem Weg zur libyschen Küste schon riskiert, und sie sind randvoll mit der Hoffnung, es gegen alle Widrigkeiten zu schaffen. Sie geben nebenbei bemerkt auch nichts auf die Nachrichten, dass es in Europa gar nicht toll ist und sich höchstwahrscheinlich kein einziger ihrer Wünsche erfüllen wird.

Und was die Anschuldigungen des sizilianischen Staatsanwalts angeht, könnte man auch fragen, was die Schlepper davon hätten, den Rettungsinitiativen Geld zu geben dafür, dass die ihnen die Leute abnehmen, die ihnen gleichgültig sein können? Es schmälerte ihren Gewinn, und was wäre der Nutzen? Die Fluchtbereiten sind ohnehin da, wollen fahren und sind bereit zu zahlen.

Es gibt am Ende nur eine Möglichkeit, mit der das große Sterben im Mittelmeer eingedämmt, wenn nicht beendet werden könnte. Es braucht legale Einreisemöglichkeiten. Die Option ist immer auf dem Tisch. Aber lieber zeigt man auf diejenigen, die das Allerschlimmste verhindern und unter Aufbietung von viel persönlichem Engagement das verteidigen, was Europa seine Werte nennt.

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