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Kurdenfrage: Türkei debattiert offen den Umgang mit Kurden

Lange Jahre weigerte sich die offizielle Türkei, die Existenz eines Kurdenproblems im Land auch nur anzuerkennen. Jetzt redet in der türkischen Hauptstadt plötzlich jeder über das "Kurdenproblem", bei Staatspräsident Abdullah Gül angefangen.

„Ob man es nun Terrorproblem, Südostproblem oder Kurdenproblem nennt, es ist das wichtigste Problem der Türkei, das Problem Nummer eins“, sagte das Staatsoberhaupt.

Dass der türkische Präsident öffentlich einen solchen Satz sagt, ist an sich schon eine kleine Revolution. Nach dem Ausbruch der Kämpfe zwischen den PKK-Kurdenrebellen und der türkischen Armee 1984 hatten Politiker und Militärs in Ankara den Konflikt lange auf eine Sicherheitsfrage verengt, die irgendwann durch die erdrückende Überlegenheit der Armee entschieden werden würde.

Die Rechtsnationalisten im Parlament kritisierten deshalb, dass Gül in der Debatte über die Kurdenfrage nun das Kind beim Namen nennt. Doch sie stehen mit ihrer Kritik weitgehend allein. Auch die Lösungsvorschläge, die fast täglich von Politikern, Diplomaten und Medien vorgelegt werden, weisen auf den Beginn einer neuen Ära hin. Selbst Oppositionschef Deniz Baykal, Vorsitzender der CHP und sonst ein unnachgiebiger Gegner der Regierung, bekundete seine Bereitschaft, an einer Lösung der Kurdenfrage mitzuarbeiten.

Die Umrisse eines neuen Anlaufs sind inzwischen erkennbar. Dabei geht es vor allem um die kurdische Sprache. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan deutete an, dass kurdische Dörfer, die besonders nach dem letzten Militärputsch von 1980 türkische Namen erhalten hatten, ihre ursprünglichen – kurdischen – Ortsnamen zurückerhalten könnten. Aus westeuropäischer Sicht mag das wenig bedeutsam erscheinen; für die Türkei wäre es ein spektakulärer symbolischer Schritt.

Nach Presseberichten ist zudem die Zulassung von Kurdisch als Wahlfach ab der Mittelstufe der Schulen sowie eine beschleunigte Einrichtung der ohnehin geplanten Lehrstühle für kurdische Sprache und Literatur an staatlichen Universitäten im Gespräch. Zeitliche Beschränkungen für Sendungen in kurdischer Sprache bei lokalen Rundfunk- und Fernsehstationen sollen fallen.

Der frühere Botschafter Ilter Türkmen geht noch einen Schritt weiter. Er tritt dafür ein, alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die den Kurden in der Türkei bisher den Ausdruck einer eigenen kurdischen Identität verbauen. Auf der Ebene der Kommunalverwaltung müsse das Kurdische auch im offiziellen Bereich geduldet werden, sagte Türkmen der Zeitung „Milliyet“.

Bemerkenswert an dieser Art von Anregungen ist nicht nur deren Inhalt, sondern auch die Tatsache, dass sie nicht vom Rand der Gesellschaft kommen, sondern von der Regierung und von Vertretern des Establishments wie Türkmen. Mancher Beobachter reibt sich deshalb die Augen: „Viele Dinge, über die man vor zehn Jahren nicht einmal sprechen durfte, stehen heute auf der Tagesordnung des Staates“, schreibt Isment Berkan, der Chefredakteur der liberalen Tageszeitung „Radikal“.

Der Tod von 44 Menschen bei dem Massaker in dem kurdischen Dorf Bilge in der vergangenen Woche und fast gleichzeitig bekannt gewordene Friedensappelle von PKK-Chef Murat Karayilan hatten die neue türkische Kurdendebatte in Fahrt gebracht. Nun muss sich zeigen, ob der Staat zu neuen Reformen bereit ist. Die Kurdenpartei DTP, die von der Justiz als verlängerter Arm der PKK betrachtet wird, sieht sich durch die neue Entwicklung und durch Aussagen wie die von Staatspräsident Gül über die Bedeutung des Kurdenproblems aber schon jetzt bestätigt: „Das sagen wir doch schon seit Jahren“, kommentierte DTP-Chef Ahmet Türk.

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