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Kurdenkonflikt: Große Sorge an den Grenzen

Unversöhnlich war die Situation stets, aber nicht so tödlich. Seit PKK-Kämpfer im Norden Syriens die Selbstverwaltung der Kurdengebiete vorantreiben, löst das Wort „Kurdistan“ wieder Schrecken aus im Nachbarland Türkei. Da, wo immer öfter Bomben explodieren.

Hin und wieder kann er den Gefechtslärm hören. Immer dann, wenn der Wind so steht, dass er den Donner der Explosionen und das Knattern der Schüsse über die Grenze weht, hinein in das kleine Dorf Saatliköy und vor das Haus von Hasan Cakmak. Auch die Kondensstreifen von Luft-Boden-Raketen hat er schon gesehen. „Es ist unmöglich, sich keine Sorgen zu machen“, sagt er, und tief schneidet die Sorge eine Falte in sein sonnengegerbtes Gesicht.

Das Dorf Saatliköy liegt ganz im Südosten der Türkei, in der Provinz Kilis, die syrische Grenze ist 500 Meter entfernt.

Hasan Cakmak fürchtet um die Sicherheit seiner Verwandten in Syrien, dort wo Krieg herrscht seit über eineinhalb Jahren. Doch ihn kümmert auch noch etwas anderes. Saatliköy ist ein kurdisches Dorf, der 48-jährige Cakmak dessen Bürgermeister. Jenseits der Grenze, in mehreren Gegenden Nordsyriens, haben im Chaos des Krieges die Kurdenrebellen von der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK die Macht übernommen. Die türkische Regierung droht deshalb mit Militärschlägen. Cakmak fürchtet, dass der seit über 20 Jahren schwelende Konflikt zwischen Türken und Kurden nun eskalieren könnte; dass der Krieg noch näher herankommen könnte, als er es sowieso schon ist. Vor seine Tür.

Auf einem Hügel oberhalb von Saatliköy thront ein festungsartig gesicherter türkischer Grenzposten. Unten, in dem kleinen Dorf, setzt sich Hasan Cakmak an einen kleinen Plastiktisch im schattigen Innenhof seines Hauses. Seine Töchter servieren süßen Tee und schwarze Trauben aus der Umgebung. Etwa 80 Menschen leben dort, über die ungepflasterten Straßen stolzieren Hühner, auf dem Dorfplatz stecken ein paar Frauen die Köpfe zusammen. Vögel zwitschern. Es ist eine Idylle, die trügt.

Seit fast 30 Jahren kämpft die PKK gegen den türkischen Staat. Was als Aufstand zur Befreiung der rund zwölf Millionen türkischen Kurden vom Feudalsystem in Südostanatolien begann, ist längst zu einem Konflikt geworden, in dem Gewalt immer wieder neue Gewalt nach sich zieht. Etwa 40 000 Menschen haben das in den vergangenen zwei Jahrzehnten mit dem Leben bezahlt. Und nun haben die Unruhen in Syrien den Kurdenkonflikt in der Türkei neu angefacht.

In den vergangenen Wochen wehten in Sichtweite der türkischen Grenze Fahnen mit dem Porträt des PKK-Gründers Abdullah Öcalan, gehisst in Städten, die kurdische Rebellen der PKK gemeinsam mit deren syrischem Ableger, der PYD, unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Für die Regierung in Ankara ist diese Fahne die pure Provokation. Daher die Androhung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, seine Regierung werde nicht zögern, PKK-Stellungen im Norden Syriens anzugreifen. Wenn das türkische Parlament am 1. Oktober aus der Sommerpause zurückkehrt, wird eine Ermächtigung der Armee zu Auslandseinsätzen einer der ersten Tagesordnungspunkte sein. An der Grenze zu Syrien wurden längst Truppenverbände zusammengezogen.

Die Grenze ist durchlässig. Regelmäßig tauchen Syrer in Saatliköy auf, um ihre Vorräte an Benzin, Zucker, Speiseöl und Brot aufzustocken. „Dahinten gibt’s ja fast nichts mehr“, sagt Cakmak. Der Bürgermeister hat von Verwandten erfahren, dass sich die PKK jenseits der Grenze auf Dauer einrichtet. „Die staatlichen Schulen sind alle geschlossen“, sagt er. „Aber die PKK will eigene eröffnen.“ Vertreter von syrischen Kurdengruppen, die nicht mit der PKK verbündet sind, würden darüber klagen, dass die immer dominanter werde. „Die Spannungen wachsen“, sagt Cakmak, der doch selber Kurde ist und stolz darauf. Und der die PKK trotzdem nicht als Vertreter der Kurden anerkennen will.

Fördert Baschar al Assad die PKK bewusst?

Es ist nicht ungefährlich, sich in dieser Weise zu äußern. Ihren Anspruch, für alle Kurden im Land zu handeln, hat die PKK in den vergangenen Jahren immer wieder mit Gewalt durchgesetzt: Dissidenten wurden ermordet, kurdische Unternehmer von der PKK überfallen, weil sie angeblich dem Staat halfen, und Lehrer entführt oder ermordet. Jedes Mal hatten die Aktionen ein Ziel.

Dann, an einem lauen Augustabend, ändert sich das. In der türkischen Großstadt Gaziantep neigt sich der Fastenmonat Ramadan seinem Ende zu. Eine Bushaltestelle in der Stadtmitte ist trotz der relativ späten Stunde noch sehr belebt. Viele Familien steigen auf dem Rückweg von einem Verwandtenbesuch in andere Busse um. Da schiebt sich ein Abschleppwagen durch den Verkehr. Er stellt einen dunklen Pkw ab. In der Nähe befindet sich eine Polizeiwache. Niemand achtet auf das Fahrzeug neben der Bushaltestelle.

Vier Minuten später explodiert es. Eine 50-Kilo-Bombe in dem Auto verwandelt den Platz in einen Feuerball. Die Täter haben dem Sprengsatz Nägel beigemischt, um ihn zerstörerischer zu machen. Neun Menschen sterben, darunter vier Kinder, das jüngste anderthalb Jahre alt.

Die türkische Regierung macht die PKK für die Gewalttat verantwortlich und tut ein Dementi der Kurdenrebellen als reine Taktik ab. Nutzt die PKK den syrischen Norden als neue Basis für Anschlagsvorbereitungen in der Türkei?

Im Mai hatte sich ein Personenwagen auf einer Überlandstraße in Zentralanatolien einer Polizeikontrolle genähert. Statt zu halten gab der Fahrer plötzlich Gas, die Beamten nahmen die Verfolgung auf. Den zwei Insassen des mysteriösen Autos wurde die Aussichtslosigkeit ihrer Lage offenbar bewusst. Sie durchbrachen die Barriere vor einer Polizeikaserne, kurz darauf explodierte das Fahrzeug. Auch ein Polizist starb dabei. Türkische Ermittler schätzen, dass sich etwa 40 Kilogramm Plastiksprengstoff in dem Auto befanden – und dass die zwei Männer im Auftrag der PKK auf dem Weg zu einem unbekannten Anschlagsziel in Ankara oder Istanbul gewesen waren. Die Männer und der Sprengstoff kamen aus Syrien.

Seit Jahren hatte es so etwas nicht mehr gegeben. Bis zum Ausbruch der Unruhen in Syrien im Frühjahr 2011 war Präsident Baschar al Assad ein enger Verbündeter der Erdogan-Regierung und duldete keine Aktivitäten der PKK auf seinem Territorium. Assads Vater Hafez hatte sich 1998 türkischem Druck gebeugt und die PKK-Führung, die damals in Damaskus residierte, aus dem Land geworfen. Seitdem war die PKK aus Syrien verbannt.

Der Aufstand gegen Assad und die Parteinahme der Türkei für die syrische Opposition haben das geändert. Die PKK kann in Syrien wieder Fuß fassen. Bürgermeister Hasan Cakmak schließt daraus, dass Assad die PKK bewusst fördert. Die Kurdenrebellen, so die Vermutung, die hier viele teilen, würden syrische Regierungstruppen entlasten, indem sie in Teilen des syrischen Kurdengebiets regierungsfeindliche Aufstände unterdrücken. Im Gegenzug lasse Assad die PKK gewähren. „Ein Subunternehmer“ sei die PKK für die syrische Regierung, sagt Cakmak.

Mehr als 500 Menschen starben seit dem Frühjahr

Nun eskaliert die Situation nicht nur an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien, sondern auch weiter östlich, an der Grenze zum Irak. Der Versuch der PKK, dort die türkische Stadt Semdinli unter ihre Kontrolle zu bringen, führte zu den schwersten Gefechten seit Jahren. Mitte September startete die türkische Armee eine Offensive an der Grenze – mit mehreren tausend Soldaten. Doch bis zu den Kandilbergen können sie unmöglich vordringen.

Dort, hundert Kilometer südlich der türkischen Grenze auf irakischem Boden, hat die PKK ihr Hauptquartier. Von dort lässt sie ihre Kämpfer ausschwärmen. Seit dem Frühjahr sollen nach türkischen Angaben weit mehr als 500 Menschen bei Auseinandersetzungen ums Leben gekommen sein, darunter etwa 400 PKK- Kämpfer – die höchste Opferzahl seit Jahren. Bei einem Bombenanschlag in Tunceli auf einen gepanzerten Militärtransporter starben am Dienstag sieben Soldaten.

Die Kurdenrebellen wollen mit der Offensive ihren Anspruch auf mehr Autonomie in der ganzen Region unterstreichen. Ziel der PKK, so befürchtet die türkische Regierung, ist ein autonomes Gebiet namens „Kurdistan“.

Es ist ein Wort, das nicht bei allen in Ankara Schrecken auslöst. Führende Kurdenpolitiker begrüßen die wachsende Selbstverwaltung der Kurden auf syrischer Seite. Sie zeige, dass die Bevölkerung die Macht in die eigenen Hände nehme, sagte kürzlich Selahattin Demirtas, Chef der legalen türkischen Kurdenpartei BDP, der enge Verbindungen zur PKK nachgesagt werden. Solche Aussagen treiben die Nationalisten und die Regierung in Ankara zur Raserei. Erdogan unterstützte kürzlich eine Forderung, die parlamentarische Immunität von BDP-Abgeordneten aufzuheben, die sich öffentlich mit PKK-Kämpfern getroffen und diese umarmt hatten.

Im Grenzgebiet wird dieser politische Streit mit mehr als nur Worten ausgetragen. So sitzt Mehmet Sahin in Gaziantep in seinem BDP-Büro und versucht die Handwerker zu ignorieren, die im Nebenzimmer zerborstene Fensterscheiben reparieren. Die sind durch Steinwürfe zu Bruch gegangen. Das Partei-Emblem an der Außenwand ist zerfetzt. Sahin, Provinzschatzmeister der BDP, ist ein hagerer Mann, der leise und mit Bedacht spricht. Nur wenige Stunden nach der Explosion der Autobombe, sagte er, habe ein türkischer Mob die Gebäude der BDP mit Steinen angegriffen. „Nur fünf Minuten nach der Explosion sagten die Behörden, es sei die PKK gewesen, und sofort wurden wir attackiert.“ Jetzt hat Sahin sogar den türkischen Staat im Verdacht, die Bombenexplosion von Gaziantep selbst arrangiert zu haben. „Die suchen nur einen Vorwand, um in Syrien etwas zu unternehmen.“ Ankara wolle verhindern, dass jenseits der Grenze eine kurdische Selbstverwaltung aufgebaut werde. Es wäre verheerend. Mögliche Nachahmungstendenzen dieser Art auf türkischem Gebiet seien für Ankara ein Albtraum. „Der Staat will ein einheitliches Volk schaffen“, sagt Sahin. „Muss denn die ganze Welt türkisch werden?“

Sahins Büro füllt sich mit Parteimitgliedern. Es wird Tee getrunken und laut über Erdogans Politik und jene Pläne diskutiert, nach denen in der Hauptstadt jetzt verstärkt über eine Intervention und die Errichtung einer von der türkischen Armee gesicherten Zone innerhalb Syriens nachgedacht werde. Doch selbst mit zehn solcher Zonen, schimpft einer, werde sich der Autonomietrend jenseits der Grenze nicht aufhalten lassen.

In Saatliköy sieht Hasan Cakmak dieser Eskalation mit wachsenden Bedenken zu. Trotzdem sagt er: „Ich rede Kurdisch so viel es mir passt.“ Er könne die Verbitterung einiger Kurden verstehen, die unter Gewalt und Willkür des Staates zu leiden gehabt hätten. Aber Gegengewalt, nein, das scheint ihm nicht der richtige Weg zu sein. „Ich habe Kurdisch von meinen Vorfahren gelernt, nicht von der PKK“, sagt er trotzig.

Dann denkt Cakmak lange nach, brütet über einer Antwort auf die Frage, wie der Konflikt gelöst werden könnte. „Bildung“, sagt er schließlich. „Das Wichtigste ist eine gute Bildung.“ Ganz erstaunt sei er, der nur die Volksschule besucht hat, vor Kurzem gewesen, als er im Internet gelesen habe, wie viele ethnische Gruppen in seinem Land leben würden. Ein gutes Zusammenleben sei möglich, glaubt er. „So etwas kann man nicht mit Kugeln machen.“ Das ist ein großer Satz für den Bürgermeister eines kleinen Dorfes.

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