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Politik: Langsame Rückkehr zur Normalität in Sao Paulo

Zahl der Toten nach Chaos in Brasilien auf 115 gestiegen / Rebellionen in Gefängnissen offenbar beendet

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Fünf Tage nach dem Beginn der Angriffe des organisierten Verbrechens auf den brasilianischen Staat und die öffentliche Infrastruktur ist relative Ruhe in Sao Paulo eingekehrt. Die Zahl der Toten, die seit Samstag zu beklagen sind, liegt bei 115. Insgesamt wurden 272 Attacken mit Handfeuerwaffen, Maschinengewehren und Granaten in Lateinamerikas größter Stadt registriert. Ziel waren vor allem die Sicherheitskräfte, Banken, Omnibusse und staatliche Einrichtungen. Der Unterricht an Schulen und Universitäten wurde suspendiert, der Verkehr größtenteils eingestellt, der Flughafen Congonhas geräumt, Geschäfte blieben geschlossen. Gleichzeitig kam es in 72 Gefängnissen im Bundesstaat Sao Paulo zu Rebellionen. Auch diese waren bis Dienstagmorgen größtenteils beendet.

Unterdessen hat die Suche nach den Ursachen für die Gewaltexplosion begonnen, deren Ausmaße selbst viele Brasilianer schockiert, die Meldungen über blutige Bandenkriege und Revolten in den völlig überbelegten Gefängnissen gewohnt sind. Brasiliens Präsident Lula von der Arbeiterpartei (PT) wirft den Sozialdemokraten (PSDB) vor, die Bildungspolitik vernachlässigt zu haben. Die PSDB regiert den reichen Bundesstaat Sao Paulo seit 12 Jahren. Sie beklagt die Reduzierung der Ausgaben für die öffentliche Sicherheit durch die Regierung Lula. Die Äußerungen sind indes vor dem Hintergrund des brasilianischen Wahlkampfs zu verstehen, im Oktober sind Präsidentschaftswahlen. Die wahren Gründe für den Terror dürften tiefer liegen und in einer Mischung aus extremer Armut, staatlichem Komplettversagen, einer Kultur der Gewalt sowie dem Aufstieg mächtiger Verbrecherorganisationen liegen.

Hinter den Attacken steckt die Mafiaorganisation „Erstes Hauptstadtkommando“ (PCC), die als Gefangenenhilfsorganisation nach der Niederschlagung einer Gefängnisrevolte Anfang der neunziger Jahre gegründet wurde. Das PCC dehnte seine Aktivitäten mit der Zeit nach draußen aus und ist heute unter anderem in den Drogenhandel, Schutzgelderpressung und Banküberfälle verwickelt. Das PCC hat dem Staat den Krieg erklärt, obwohl ein Großteil seiner Anführer hinter Gittern sitzt – von wo sie allerdings bisher mit der Außenwelt problemlos kommunizieren konnten. Seine Mitglieder rekrutiert das PCC aus dem Millionenheer der Armen, die in den schnell wachsenden Favelas leben, die Sao Paulo wie ein Meer umgeben. Dort herrschen keinerlei staatliche Kontrolle oder Infrastruktur. Daher geben meist Drogenbanden den Ton an. Für viele Jugendliche und junge Männer, die nichts mehr von der Gesellschaft erwarten, bieten die Banden die einzige Perspektive. Viele Beobachter sind unterdessen von der guten Organisation des PCC überrascht, die der des Staates ebenbürtig zu sein scheint. Die Angriffe sind orchestriert und werden mit schweren Waffen ausgeführt, die nicht selten aus Armeebeständen stammen. Der Arm des PCC reicht weit in den Polizeiapparat und in die Politik hinein. Die Mafia lockt mit Geldern, von denen Beamte in Brasilien nur träumen können. Günther Maihold, Lateinamerikaexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, hält den Gewaltausbruch denn auch für die Reaktion der Mafia auf den Versuch der Zentralregierung, der Kriminalität unter Einbeziehung des Militärs Herr zu werden. „Die Angriffe sind der Versuch, dem Staat deutlich zu machen, dass seine bisherigen Bemühungen zur Kriminalitätsbekämpfung keinen Erfolg haben“, sagte Maihold.

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