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Selfie-Zeit: Wotan Wilke Möhring bei der Berlinale-Eröffnung mit einem Fan.

© Paul Zinken/dpa

Leben im Selfie-Modus: "Feature dich selbst, dann bleibt alles erwartbar"

Auch auf der Berlinale gerade schwer angesagt: Selfie mit Filmstar. Neuer Narzissmus oder richtiger Hinweis darauf, dass jeder sich selbst der nächste ist? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ariane Bemmer

Man konnte es schon am Montagabend wieder sehen, als in Berlin Pressekonferenz mit Keanu Reeves war, der in einem Hotel seinen neuen Film bewarb. Erst stellten die Pressevertreter Fragen, und dann wollten sie Fotos. Und zwar solche, auf denen sie selbst mit drauf waren. Also drehten sich einige von Reeves weg und hielten ihr Smartphone fürs Selfie von sich und dem Kinostar in die Höhe. Zu sehen war diese Szene unter anderem in der Abendschau des RBB – und die Sprecherin sagte dazu, „ganz klar“ wollten alle so ein Foto. Ganz klar?

Wer die Bilder vom Rand des roten Teppichs der "Berlinale" sieht, bemerkt dasselbe: Das Foto vom Star an sich reicht längst nicht mehr. Ein cooles Bild hab ich erst, wenn ich selbst mit drauf bin. Der Star wird somit zur Staffage für die Selbstinszenierung. Es gab Zeiten, und eine Ewigkeit sind die nicht her, in denen wäre das peinlich gewesen. Man hätte sich so ein Foto mit Star vielleicht klammheimlich gewünscht, aber höchstens in einem stillen Moment verschämt darum gebeten. Wahrscheinlich hätte man noch jemanden vorgeschoben, der das Foto unbedingt haben wollte, die bettlägerige Mutter, das kranke Kind. Irgendetwas Dramatisches.

Heute kann das Ich jederzeit hemmungslos inszeniert werden, da gibt es kein Pardon und kaum noch Schmerzgrenzen. Das mag den Älteren wie eine willkommene Erweiterung ihres Real-Life-erprobten Handlungsspektrums vorkommen, weil sie mal etwas anders machen können als üblich. Aber was ist mit den Jüngeren? Denen, die kaum etwas anderes kennen als ein Leben als Hauptperson in ihrer eigene Inszenierung?

Fotografieren die Leute sich selbst, weil es sonst keiner tut?

Es kursieren für den neuen Trend bereits Diagnose-Schlagworte wie Selfieness, Facebook-Gesellschaft oder Narzissmus-Epidemie, der schnell beleidigte Twitter-Präsident Donald Trump darf in der Aufzählung natürlich auch nicht fehlen. Egoismus, allgemeine Gefühlskälte, Selbstverliebtheit sind die beklagten Symptome, die dazu gehören. Andererseits: Wer prägt wen? Die Gesellschaft ihre Mitglieder oder die Mitglieder die Gesellschaft? Fotografieren und sich die Menschen am Ende nur deshalb selbst, weil es eben sonst keiner tut?

Das Statistische Bundesamt teilte kürzlich mit, dass in einem Durchschnittshaushalt für Karten-, Würfel- oder Brettspiele im Jahr rund neun Euro ausgegeben würde, für Computerspiele und elektronisches Spielzeug dagegen 24 Euro, fast drei Mal so viel. Das klingt wie ein Indiz für eine Entwicklung – und nach Menschen, die vielleicht selbst schon den Spaß am „richtige Spiele spielen mit richtigen Mitspielern“ von ihren Eltern nicht mehr gelernt haben, darum nun auch mit ihren Kindern nichts anfangen können und die unermüdliche Technik zur Hilfe nehmen.

Bei Nichtgefallen zerdeppern? Geht mit Menschen nicht

Aber können Kinder zwischenmenschliches Handeln lernen, die Balance zwischen sich und den anderen erproben, wenn sie ein programmiertes Gegenüber haben? Kinder, die von einem Roboter durchs Museum geführt werden, sind von dem interaktiven Kollegen aus Plastik zwar durchweg begeistert, aber er bleibt eben eine Maschine. Man könnte ihn bei Nichtgefallen an die Wand schmeißen und bei Zerstörungsbedauern auch wieder neu beschaffen. Auf so einer Grundlage lässt sich soziale Kompetenz nicht erwerben, die auch mit Verantwortung und Mitdenken zu tun hat.

Die New Yorker Autorin Kristin Dombek erzählt in ihrem Essay über den Narzissmus („Die Selbstsucht der anderen“) von einer 16-Jährigen, die ihren Geburtstag vor Fernsehkameras als Gast einer Reality Show feiern will – inklusive Parade durch die Straßen ihres Heimatortes, die aber auch die Zufahrt zu einem Krankenhaus versperrte. Ihre Reaktion: „So what! Mein Geburtstag ist ja wohl wichtiger.“

Psychologen kennen grob geschnitzt zwei Gründe für die Entstehung narzisstischer Persönlichkeitsstörungen: zu wenig Zuwendung im Kindesalter oder zu viel. Weil man entweder nicht besonders genug war, um geliebt zu werden, oder die kindliche Besonderheit auch als Erwachsener noch dauernd bestätigt haben muss. Und reagiert die Gesellschaft im Allgemeinen nicht ähnlich disparat? Einerseits das Kind an sich mit Erwartungen total überladend, andererseits genervt bei vielem, was tatsächlich kindlich ist? Da wirkt der moderne Selfieness-Narzissmus fast wie eine logische Antwort. Motto: Feature dich selbst, dann bleibt alles erwartbar, wirst du nicht enttäuscht – und jedem, dem das missfällt, kannst du sagen: Dann schau halt nicht hin.

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