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In der Manie. In der Klinik zeichnet sich der manisch-depressive Felix selbst.

© Felix

Leben mit der Manie: "Mama, mein Hirn ist gefickt"

Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt, es sind furchtbare Qualen, die manisch-depressive Menschen erleiden. Bericht einer Mutter.

Eines Nachts wachte Tim auf, weil Lichter über die Decke seines Zimmers streiften. Da war ihm klar, seine Feinde sind gekommen, um sich an ihm zu rächen und ihn zu töten. Er stand auf und blickte aus dem Fenster. Unten auf der Straße stiegen sie aus dem grauen Lieferwagen: 15 wilde Kerle. Tim wickelte Geld in ein T-Shirt und warf es ihnen zu. Doch die Feinde ließen sich nicht besänftigen. Mit drohendem Gebrüll drangen sie ins Haus und polterten die Treppe hinauf. Felix schob eine Kommode vor die Tür, kroch mit einem Messer unter das Bett und alarmierte die Polizei.

Vier Mal kamen die Beamten. Jedes Mal umsonst, denn die Kerle waren stets verschwunden, sobald die Sirenen zu hören waren. In den frühen Morgenstunden entschloss sich Tim zur Flucht. Er rettete sich in das Dunkel eines Spielsalons, wo die Automaten 400 Euro ausspuckten, genug, um den Feinden zu entrinnen. Mit einem Taxi ließ er sich so lange durch die Gegend fahren, bis das Geld verbraucht war. Am Abend schließlich konnte ihn sein Vater am Ulmer Bahnhof auflesen. „Papa, sie finden und töten mich“, sagte Tim zitternd zu ihm.

700 Kilometer von Ulm entfernt, am Abend desselben Tages, erklärte mir Tims Bruder Felix, er habe auf der Straße einen Koffer mit einer Bombe gesehen, außerdem sei eine Kellertür offen gestanden, er fürchte nun Einbrecher im Haus. Seit Tagen schon war Felix rastlos und gereizt gewesen. Es war wieder so weit. „Mama, du hast recht“, sagte er „besser ich geh ins Krankenhaus, die Manie ist wieder da.“

Zeitgleich schlossen sich die Pforten der Psychiatrie hinter meinen beiden Söhnen. Es war die vorläufige Endstation ihrer Achterbahnfahrt in die Manie.

Tim und Felix sind eineiige Zwillinge, 21 Jahre alt und beide bipolar oder manisch-depressiv, wie man die Krankheit auch nennt.

Felix erkrankte als erster. Er war 17, als die Manie sein bis dahin weitgehend unbeschwertes Leben beendete. „Ich muss dringend mit dir reden“, sagte er eines Tages. „Mama ich weiß jetzt wie Menschen leben müssen aber das kann niemand verstehen auch meine Freunde nicht weil die alle einen falschen Weg gehen das kann ich an ihren Gedanken lesen ich habe die Macht über sie.“ Eine Stunde lang sprach er ohne Punkt und Komma, anfangs noch halbwegs verständlich, dann zunehmend wirrer. Satzfetzen wiederholten sich, nichts sprach er zu Ende.

Zunächst dachte ich noch an einen pubertären Ausbruch, möglicherweise hatte er auch Ärger mit seiner Freundin oder der Schule. Doch dann verbarg er den Kopf in seinen Händen und sagte leise: „Mama, mein Gehirn ist gefickt, hilf mir, bitte.“ Dann sah er mich mit Augen an, wie ich sie bei ihm noch nie zuvor gesehen hatte: verzweifelt, angstvoll, weit entfernt, mir vollkommen fremd.

Felix tobte: "Ich bin doch normal, die dürfen mich nicht einsperren!"

24 Stunden später saßen wir bei einem Psychiater, der nach ausgiebigen Untersuchungen riet, meinen Sohn in der Klinik zu lassen. Die Diagnose: Ein psychoaffektiver Schub. Felix bekam ein starkes Schlafmittel, nachdem er wie wahnsinnig durch die Gänge gelaufen war und gebrüllt hatte: „Ich bin doch normal, die dürfen mich nicht einsperren!“ Während seines Klinikaufenthalts kristallisierte sich die Diagnose genauer heraus: Bipolarität.

Die schwere psychische Krankheit ist von wechselnden, unterschiedlich ausgeprägten manischen und depressiven Phasen gekennzeichnet. Gesteigertes Selbstwertgefühl, geringes Schlafbedürfnis, Gedankenrasen, starker Rededrang, bisweilen auch Wahnvorstellungen sind die wesentlichen Symptome einer Manie. In den depressiven Phasen sind die Erkrankten ängstlich, depressiv verstimmt, sie haben Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle, können sich nicht konzentrieren und nichts entscheiden.

Zwischen fünf und sieben Prozent der Deutschen leiden an dieser affektiven Störung. Dabei reicht das Spektrum von einer leichten bis zu einer sehr schweren Ausprägung, die vor allem durch biologische und genetische Störfaktoren verursacht wird. Psychische Belastungen, Stress, mangelnder Schlaf, Alkohol oder Drogen begünstigen den Ausbruch der Krankheit.

Wir hatten Glück, dass Felix` Bipolarität als solche auch erkannt worden war. Da die Krankheit das komplexeste und vielseitigste Erscheinungsbild aller psychischen Störungen aufweist, ist sie nicht leicht zu diagnostizieren.

Prof. Dr. Peter Bräunig, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik und des Zentrums für affektive Erkrankungen am Humboldt Klinikum in Berlin, sagt: „Die schweren Episoden sind durch psychotische Merkmale charakterisiert, deswegen wird allzu häufig Schizophrenie diagnostiziert. Die Erkrankten müssen sich dann falschen Therapien unterwerfen.“

Immer wieder fragte ich mich, ob ich Felix` Abrutschen in die Manie früher hätte entdecken können. An seinem exzessiven Fußballspiel, an der nächtlichen Unruhe? Weil ihn alles begeisterte, alles „top“ war? Oder weil er sich allem und jedem gewachsen fühlte, jeder Prüfung in der Schule, auch jeder Horde Jugendlicher, die ihm auf der Straße „blöde Blicke“ zuwarfen? Für mich war das jugendlicher Übermut. Hinter seiner vorangegangenen depressiven Phase, als er längere Zeit tagsüber im Bett lag und wenig sprach, vermutete ich Liebeskummer und Schulsorgen.

Nach zwölf Wochen wurde Felix aus der Psychiatrie entlassen. Er kehrte zurück in sein normales Leben, ging morgens zur Schule, kehrte mittags zurück. Er war deutlich ruhiger, stabiler und ausgeglichen. Drei Monate später rief seine Klassenlehrerin an. Felix, so sagte sie, sei verändert, er würde sich nicht mehr am Unterricht beteiligen, wenn er denn überhaupt zugegen war. Seine Fehltage seien beträchtlich, das Abitur sei gefährdet.

Nach und nach erfuhr ich, wie er seine Schulzeit verbrachte: In Cafés, auf der Straße, vor allem aber in Spielsalons, wo er sein Taschengeld verspielte. Als ich ihn zur Rede stellte, brach seine Fassade zusammen. „Ich schaffe die Schule sowieso nicht mehr“, sagte er unter Tränen, „es tut mir so leid, ich habe versagt.“ Da war er 18 Jahre alt, die Depression hatte ihn im Griff. Felix beschloss gegen alle Ratschläge, die Schule abzubrechen. Wie es nun weitergehen würde, wusste er nicht. Die Kraft, darüber nachzudenken, hatte er nicht. Zeitgleich packte die Krankheit auch Tim: Wirrwarr der Gedanken, fehlender Tages-Nachtrhythmus, Rastlosigkeit, Gereiztheit und Selbstüberschätzung.

Der Gedanke, die etwas holprige Kindheit könnte düsterer Vorbote einer schweren Erkrankung sein, war damals weit entfernt.

Meistens tritt die Erkrankung vor dem 25. Lebensjahr auf. Bei 30 Prozent der Erkrankten kündigt sich die Bipolarität jedoch schon weit vor dem 13. Lebensjahr an, durch Ängstlichkeit und Niedergeschlagenheit oder Unangepasstheit und übertriebenen Tatendrang. Viele erhielten dann fälschlicherweise die typische Diagnose ADS (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom), so Bräunig.

Möglicherweise zählten meine Kinder zu diesen 30 Prozent. Ich erinnere mich an die vielen schlaflosen Nächte, weil die Zwillinge von Geburt an nahezu fünf Jahre lang im 90-minütigen Rhythmus wach wurden. Ich denke an ihre Ängstlichkeit, vor allem aber an ihre mangelnde Konzentrationsfähigkeit in der Schulzeit. Von allem ließen sie sich ablenken, von einem Papierrascheln oder einem vorbeifahrenden Auto. Ihr Temperament war alles andere als stabil. Sie weinten schnell, wenn ihnen etwas nicht gelang, sie zerrissen ihre Schulhefte, wenn sie fanden, dass sie Unsinn geschrieben hatten. Und übten sie Geige, warfen sie sich schreiend auf den Boden, sobald die Töne nicht gut genug klangen. Der Gedanke, die etwas holprige Kindheit könnte düsterer Vorbote einer schweren Erkrankung sein, war damals weit entfernt.

Bis zu ihrem jüngsten Klinikaufenthalt jonglierten die Zwillinge zwischen ruhigen und unruhigen Phasen hin und her. Meistens jedoch legten sie, wohlwollend ausgedrückt, ein Extremverhalten jugendlicher Unüberlegtheit an den Tag. War dieser unkontrollierte wie unkontrollierbare Lebensstil Ausdruck oder Ursache ihrer Bipolarität? Ich weiß es nicht. Die Folgen ihrer Krankheit waren auch für mich, die Mutter, dramatisch. Nachts verbrachte ich Stunden vor der Haustür, um meine Söhne am Verlassen der Wohnung zu hindern. Zu oft hatte ich erlebt, in welch kritische Situationen sie geraten, wenn sie in unstabiler Verfassung waren.

In manischen Phasen sollte jeder an ihrem inneren Rauschgefühl teilhaben. Tim lud Freunde zur Party ein und verpulverte an einem Abend das gesamte Geld, das er in den Sommerferien hart erarbeitet hatte: 1800 Euro. Felix befand sich im Rausch des Schenkens. Er versetzte sein Handy, Kleidung und Schuhe, um Geschenke für jedermann zu kaufen. In ihrer maßlosen Euphorie fühlten sie sich allmächtig, verspürten keinerlei Ängste, nicht einmal vor einer Überzahl betrunkener Rowdies. Beide brachen sich im Kampf mit diesen die Hände. Felix` Trommelfell platzte, weil er das Mädchen eines russischen Kleinkriminellen angesprochen hatte, Tim durchschnitt sich bei einem Schlag in eine Glasscheibe die Pulsadern.

Verfielen sie der Depression, lagen sie tagelang in ihren Betten. Alles war ihnen zu mühselig, das Leben wirkte trostlos. Um das triste Gefühl in ihren Köpfen zu vertreiben, machten sie auch in diesen Phasen alles zu Geld, was ihnen in die Hände kam. Dann vertranken oder verspielten sie es. Und ich lief durch die Spielsalons der Umgebung und legte den Betreibern Fotos meiner Söhne vor, damit ihnen der Einlass verwehrt würde.

Bipolare neigen zu Exzessen, erläutert Bräunig. Das ist Teil ihrer Krankheit, ebenso wie die Überlagerung anderer psychischer Störungen wie ADS sowie diverser Süchte wie pathologisches Spielen und übermäßiger Alkoholkonsum.

Auch Tims Schulbahn scheiterte. Weniger an seiner Bipolarität, denn sein schulischer Bereich war von der Erkrankung bislang unberührt geblieben. Er scheiterte an der Stigmatisierung, mit der viele psychisch Kranke konfrontiert werden.

Die Schule empfindet Tim als Bedrohung, stempelt ihn als potenziellen Amokläufer ab - mit dramatischen Folgen.

Tim besuchte eine Berliner Privatschule. Ein Jahr ging alles gut, bis sich ein manischer Schub anbahnte. Als er ein paar Tage fehlte, weil er medikamentös ruhig gestellt werden musste, erklärte ich der Schulleitung den Grund seines Fehlens. Ich hatte mir nicht vorstellen können, wie sehr psychische Erkrankungen mit Vorurteilen belegt sind. Binnen kurzer Zeit betrachtete man Tim nicht mehr als ruhigen und freundlichen Schüler, als der er gegolten hatte, sondern als wandelnde Gefahr. Die Schuldirektion alarmierte die Schulaufsichtsbehörde, die Polizei, die Klinik. Tim wurde das Betreten des Schulgeländes untersagt, bis er folgende Auflagen erfüllte: Ständige Überwachung durch den sozialpsychiatrischen Dienst, Beginn einer Psychotherapie, Kontrolle der Medikamenteneinnahme, Überprüfung einer stationären Therapie. Als Grund für diesen ebenso unerfüllbaren wie diskriminierenden Maßnahmenkatalog nannte mir die Schulaufsichtsbehörde: „Die Schulleitung fühlt sich von Tims wilden Augen bedroht.“

„Die meisten Bipolaren stehen vor dem Problem, dass ihre Krankheit nicht verstanden wird“, sagt Professor Bräunig. „Deren Verhalten wird dann als anstrengend, als deviant, also abweichend, oder gar kriminell interpretiert. Die Folge ist fatal, denn der Kranke wird wie ein Verbrecher behandelt.“

Bipolarität ist in der Tat gefährlich, aber ausschließlich für die Betroffenen selbst. Es gibt keine Korrelation zwischen Bipolarität und Gewaltkriminalität. Aber etwa 15 Prozent der Erkrankten beenden ihr Leben selbst. In depressiven Phasen neigen sie zu Suizid, in der Manie fühlen sie sich allmächtig und unverwundbar. Sie springen von Brücken in der Annahme, sie könnten fliegen oder überqueren achtlos die Straße, weil Autos ihnen vermeintlich nichts anhaben können.

Nachdem sich Tim als potenzieller Amokläufer abgestempelt fühlte und sein Ziel, das Fachabitur, in unerreichbare Ferne gerückt war, verlor er den inneren Halt vollkommen. Verzweifelt und gänzlich unstabil zog er nach Bayern zu einem Freund. Dort brach die Manie in ihrer schlimmsten Form über ihn herein und ließ ihn glauben, 15 wilde Kerle wollten ihn töten.

Dann kam der nächste und hoffentlich letzte Aufenthalt in einer Klinik. Anschließend gingen Tim und Felix in ein Reha-Zentrum für psychisch Kranke, um den Umgang mit ihrer Krankheit zu erlernen. Das nämlich ist möglich.

Auch wenn der Leiter des Reha-Zentrums im Abschlussgespräch sehr unsensibel das Gegenteil suggerieren wollte: „Seien Sie froh, wenn Ihre Söhne das 24. Lebensjahr überstehen, wenn sie sich nicht totprügeln lassen oder vor den Zug werfen. Ja, Sie müssen sich mit dem Tod befassen, wenn sie solche Kinder haben.“

Aber wir hoffen weiter. Nur, wie wird es weitergehen?

Bipolarität ist nicht heilbar. Je älter die Zwillinge werden, desto kürzer werden die Abschnitte ihrer Rückfälle. Dagegen sind auch die Medikamente machtlos. Mit einem maßvollen, antrainierten Lebensstil aber werden sie ein wunderbares Leben führen können, so wie die Mehrheit der Bipolaren. Sie werden von der Kreativität, der künstlerischen Neugierde und Experimentierfreude profitieren, die den meisten Bipolaren gegeben ist.

Und ich hoffe für sie, dass sie in ihrem sozialen und beruflichen Umfeld auf Verständnis stoßen werden, denn das ist, wie wir selbst erfahren mussten, nicht oft gegeben. „Viele Bipolare könnten beruflich hoch erfolgreich sein, gäbe es nicht diese enorme Arbeitsdichte“, sagt Bräunig. „Zu viele werden mit einem Durchschnittsalter von 45 Jahren verrentet. Welch Schande, was da für kreative Köpfe verloren gehen.“

Felix und Tim sind zurzeit stabil. Es ist ihnen bewusst, dass ihr Leben immer wieder aus einem Auf und Ab besteht. So bestimmt es ihre ständige Begleiterin, die Bipolarität. Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt. Oder, wie ein Bipolarer in einer Selbsthilfegruppe es ausdrückte: „Wir sind Meister des Scheiterns und Meister des Wiederaufstehens.“ An diesen Satz werde ich mich erinnern, wenn sich einer meiner Zwillinge wieder auf der Achterbahn seiner Gefühle befindet.

Alle Namen außer dem von Professor Bräunig wurden geändert.

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