zum Hauptinhalt
Smalltalk während der Sitzung: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Gespräch mit Vizekanzler Sigmar Gabriel nach dessen Rede.

© Michael Kappeler/dpa

Letzte Bundestagssitzung: "Verzweifelte sehen anders aus"

Es ist ein etwas sonderbarer Vormittag im Parlament. Viele würden sich am liebsten in den Armen liegen. Aber vor der Wahl muss gestritten werden.

Von Robert Birnbaum

Vielleicht, sagt Sigmar Gabriel, vielleicht sei das ja unüblich für so eine Debatte in Wahlkampfzeiten, aber trotzdem: „Ich will mich mal bedanken.“ Der Bundesaußenminister ist einer der letzten Redner zum Tagesordnungspunkt „Situation in Deutschland“. Durch den Plenarsaal weht schon reichlich von dem Pulverdampf, den seine Vorredner verbreitet haben in der letzten Sitzung dieses Parlaments. Von Gabriel erwartet eigentlich jeder, dass er’s drei Wochen vor der Wahl erst recht böllern lässt; schließlich ist der SPD-Mann in diesem Moment quasi der Statthalter seines Kanzlerkandidaten. Martin Schulz hat bekanntlich weder Amt noch Mandat, also darf er hier bislang nicht rein.

Aber Gabriel dankt erst einmal. Den Fraktionsvorsitzenden der großen Koalition, Volker Kauder und Thomas Oppermann, für gute Zusammenarbeit auch in komplizierten Zeiten. Der großen Koalition insgesamt als einen Hort der Stabilität und dafür, „dass wir es geschafft haben, Deutschland in dieser rauen See auf Kurs“ zu halten. „Es gibt Grund dafür zu sagen, dass wir gut regiert haben.“ Und ausdrücklich auch der Kanzlerin: „immer fair, immer belastbar“ seien Absprachen mit ihr gewesen, „gerade in den schwierigen Situationen“. Angela Merkel lächelt auf der Regierungsbank ein bisschen überrascht. Wahrscheinlich überlegt sie, welche Kriegslist da jetzt hintersteckt. Aber dann nickt sie ihrem Noch-Vize zu – danke, gleichfalls. Sie trägt übrigens roten Blazer zu schwarzer Hose, das passt also auch.

Es ist ja schon ein etwas sonderbarer Vormittag. Von überall her aus den Wahlkreisen sind die Abgeordneten noch einmal mitten aus dem Wahlkampfstress nach Berlin gekommen. Für viele ist es das letzte Mal. Zwischendurch wird man in den Abgeordnetenbänken hier und da ein Smartphone hochgehen sehen für ein Last-minute-Erinnerungsfoto.

Zum letzten Mal sagt Lammert: "Die Sitzung ist eröffnet"

Auch der Mann, der Schlag neun Uhr den Saal betritt, am Präsidentenpult das Mikrofon einschaltet und dann alle gewohnt zivil bittet, Platz zu nehmen, „die Sitzung ist eröffnet“ – auch Norbert Lammert sagt diesen Satz zum letzten Mal. 37 Jahre lang saß der Christdemokrat für seine Heimat Bochum im Bundestag, zwölf Jahre war er Parlamentspräsident. „Ein Privileg meiner Biografie“ nennt er die Zeit in seiner Abschiedsrede. Sie enthält eine ernste Mahnung. Dieses Parlament, sagt der 68-Jährige, sei stärker und einflussreicher als die meisten auf diesem Globus. Aber immer noch werde zu viel bloß geredet und zu wenig debattiert; immer noch lasse sich der Bundestag zu viel von der Regierung vorsetzen, statt selbst die Regeln zu bestimmen. „Hier im Deutschen Bundestag schlägt das Herz der Demokratie“, sagt Lammert und erinnert seine Kollegen an die Rolle, die das Grundgesetz ihnen zuweist: „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“

Der Saal applaudiert, Kauder und Oppermann an dieser Stelle nicht. Für die Fraktionsmanager der Regierung war der Mann oft sperrig, der schon mal eigenmächtig Abweichlern das Wort erteilte und auch sonst die Rechte der Kleinen hochhielt. „Ich werde Ihren Scharfsinn, Ihren Humor sehr vermissen“, sagt Grünen-Chef Cem Özdemir.

Beim Linken-Antrag funktioniert die große Koalition noch

Damit ist er nicht allein. Aber das Leben geht weiter und der Wahlkampf auch, also fordert jetzt erst mal die Linke, über ein atomwaffenfreies Deutschland zu debattieren, weil, sagt der Abgeordnete Jan Korte, der Kandidat Schulz den Abzug der US-Atomwaffen aus Rheinland-Pfalz gefordert hatte und die SPD nun den Worten Taten folgen lassen könne. Die SPD will das aber nicht, und auch die Union lehnt den Antrag auf Erweiterung der Tagesordnung als „Klamauk“ ab. An dem Punkt funktioniert also die große Koalition noch.

Dabei hätten sie genau so gut Ja sagen können. Inhaltlich spielen Krieg und Frieden in den gut fünf Stunden im Reichstag nämlich auch so eine größere Rolle. Man kann das vorausahnen, als der SPD-Außenexperte Ralf Mützenich in diesem Vorgeplänkel gleich mal den Martin-Schulz-Standardvorwurf zitiert: Die Bundeskanzlerin, pflegt der Kanzlerkandidat in seinen Marktplatzreden zu rufen, wolle sich im Verteidigungshaushalt „dem Zwei-Prozent-Diktat eines amerikanischen Präsidenten unterwerfen“.

Merkel steht auf und tuschelt mit ihrer Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Das will die CDU-Chefin so nicht stehen lassen. Als Lammert sie als erste Rednerin ans Pult bittet, geht sie aber erst mal vom Diesel-Skandal – „unverzeihliche Fehler“, doch kein Grund, die Zukunft der deutschen Vorzeigeindustrie infrage zu stellen – zum Lob der eigenen Regierungsarbeit über: niedrige Arbeitslosigkeit, hohe Beschäftigung, Mindestlohn ... Von der SPD-Bank ruft der Generalsekretär Hubertus Heil etwas dazwischen, das nach „Das haben wir durchgesetzt!“ klingt. Merkel reagiert spitz: Die SPD in Ehren, „aber gegen meinen Willen und den der CDU/CSU-Fraktion hätten Sie hier gar nichts durchgesetzt!“

SPD-Politiker preisen sozialpolitische Wohltaten

Es geht also schon mal munterer zu als im TV-Duell. Oppermann und Sozialministerin Andrea Nahles und die Kurzzeit-Frauenministerin Katharina Barley werden später sozusagen im Chor darauf bestehen, dass die SPD die sozialpolitischen Wohltaten der letzten vier Jahre allesamt gegen die Union und die Kanzlerin persönlich habe durchsetzen müssen. Gabriel wird etwas charmanter kontern: Die SPD habe der Kanzlerin oft helfen müssen, dass sie gegen den CSU-Chef Horst Seehofer und ihren eigenen Finanzminister „einen Willen haben durfte“.

Aber ins Zentrum der Debatte rutschen diese zwei Prozent. Die stehen in Nato-Beschlüssen als Zielmarke: zwei Prozent vom Bruttosozialprodukt für Verteidigungsausgaben. Allerdings ist die diplomatische Wirklichkeit etwas komplizierter. Merkel zitiert aus den Nato-Papieren: „in Richtung zwei Prozent“ sollten die Mitglieder ihre Wehretats bis 2024 bringen. Eine Bemühenszusage, höchstens schrittweise zu erfüllen.

Und außerdem – Merkel guckt jetzt in ihr Manuskript – außerdem wolle Martin Schulz doch genau das Gleiche. Neulich habe der SPD-Kandidat bei Phoenix erklärt, dass seine Experten für die Bundeswehr „drei bis fünf Milliarden Euro jährlich“ zusätzlich für richtig hielten. Wenn sie das mit ihren mathematischen Fähigkeiten hochrechne, ergäben jährlich fünf Milliarden im Jahr 2024 genau zwei Prozent! „Also kein Problem, kein Dissens. Ich bin froh und hoffe, dass das Wort des Kanzlerkandidaten Martin Schulz gilt.“

Bei Merkels Rechnung verrutschen die Gesichter in den SPD-Reihen

In der ersten Bank der SPD kann man jetzt ein paar Gesichter verrutschen sehen. Oppermann als erster SPD-Redner geht auf Merkels Mathematik gar nicht ein, sondern wiederholt unverdrossen, dass die SPD gegen „Aufrüstung“ sei, nicht aber gegen bessere „Ausrüstung“ der Bundeswehr. Doch die Sache lässt ihnen keine Ruhe. Der Linken-Spitzenkandidat Dietmar Bartsch ätzt, drei SPD-Milliarden Euro jedes Jahr mehr sei ja auch Aufrüstung. Kauder nennt den Vorwurf an Merkel „schäbig“.

Als auch noch die Grünen-Frau Katrin Göring-Eckardt verkündet: „Sie haben sich jetzt also beide darauf geeinigt, dass Sie zwei Prozent Rüstungsausgaben wollen!“, meldet sich Heil zur Zwischenfrage. Er will da mal was richtigstellen. Schulz’ Zitat, sagt der SPD-General, habe Merkel „aus dem Zusammenhang gerissen“. Der Spitzenkandidat habe drei bis fünf Milliarden Euro „insgesamt“ als Plus genannt und nicht „Jahr für Jahr“. Das lässt jetzt wiederum die Union nicht ruhen. Hat er doch, widerspricht CDU-General Peter Tauber: „jährlich“ habe Schulz in dem Gespräch gesagt.

Das hat er tatsächlich; man kann sich die Passage im Zeitalter des Internets ja auch leicht in der Mediathek selbst anhören. Entweder war also Schulz nicht im Bilde. Oder dieses ganze Gemälde von der Trump-hörigen Aufrüstungskanzlerin ist sowieso bloß ein Popanz – eine Lesart, der in stillen Stunden nicht einmal jeder SPD-Verteidigungspolitiker widersprechen mag.

Gabriel jedenfalls macht eine elegante Kurve um diese Art Wahlkampfmathematik. Nato-Ziel hin oder her – „die Nato hat nie beschlossen, dass es zwei Prozent sind“. Aber bei all den Gefahren und Drohungen und dem Kriegsgeschrei in der Welt müsse doch Deutschland so oder so zur „Stimme der Abrüstung und Rüstungskontrolle“ werden. Willy Brandt habe seine Entspannungspolitik im kältesten Kalten Krieg begonnen. „Die Zeiten sind jetzt genau so gefährlich, wenn nicht gefährlicher!“

Wenn man jetzt nicht wüsste, dass Sigmar Gabriel für einen Kanzler Martin Schulz kämpft, klänge das fast wie ein Programm für einen sozialdemokratischen Bundesaußenminister. Von der leisen Abschiedswehmut des Tages anstecken lassen mag er sich eh nicht. „Machen’se sich keine Sorgen“, bescheidet Gabriel einen CDU-Zwischenfrager, der ihm den Umfragerückstand der SPD vorhält. „Verzweifelte sehen anders aus!“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false