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Unterversorgung: Mangel an Therapeuten

Die Kammer klagt: Es gibt immer mehr psychische Erkrankungen, die regionale Versorgung mit Praxen stimmt nicht mehr.

Es gibt kaum eine Krankenkassenstudie, in der sie nicht beklagt wird: die dramatische Zunahme psychischer Erkrankungen. Doch ob Depression, Angstzustände oder Burn-out – in keiner Medizinersparte müssen Patienten so lange warten wie in der Psychotherapie. Bis zum Erstgespräch dauert es im Schnitt drei Monate, bis zum faktischen Behandlungsbeginn fast ein halbes Jahr. „Erhebliche Unterversorgung“, diagnostiziert nicht nur die Psychotherapeutenkammer, sondern auch mancher Hausarzt. Das geplante Versorgungsgesetz für mehr Landärzte könnte die Situation womöglich noch verschlimmern.

Am längsten gedulden müssen sich psychisch Kranke in Ostdeutschland, auf dem Land und im Ruhrgebiet, ergab eine Umfrage unter gut 9000 niedergelassenen Psychotherapeuten. In Brandenburg dauert es im Schnitt 19,4 Wochen bis zum Erstgespräch, in Mecklenburg-Vorpommern 18 und in Thüringen 17,5 Wochen. Noch drastischer ist es beim Blick auf kleinere Regionen. In Ost-Mecklenburg beträgt die durchschnittliche Wartezeit 28, in Gelsenkirchen 27 und beim Spitzenreiter Bottrop gar 45,4 Wochen.

Kranken Menschen werde eine aufwendige und oft vergebliche Suche zugemutet, klagt Kammerpräsident Rainer Richter. Viele gäben auf und verzichteten ganz auf eine Behandlung – was das Risiko einer wiederkehrenden und sich verschlimmernden Erkrankung erhöhe. Und andere landeten statt auf der Couch dann gleich im Krankenhaus – obwohl dies oft gar nicht angebracht und weit teurer sei.

2009 kamen die Kliniken auf 1,2 Millionen Patienten mit psychischen Erkrankungen. Es sei „beachtlich, in welchem Umfang sich deutsche Krankenhäuser mittlerweile um die Versorgung psychisch kranker Menschen kümmern“, konstatiert der Vizevorsitzende der Barmer-GEK, Rolf-Ulrich Schlenker. Sie beanspruchten 17 Prozent aller Behandlungstage. Zur ambulanten Weiterbehandlung müssen sie sich dann wieder monatelang anstellen.

Drei Wochen, so die Psychotherapeutenkammer, sei das Äußerste, was man psychisch Kranken an Wartezeit zumuten dürfe. Tatsächlich haben sich im hoffnungslos unterversorgten Ruhrgebiet 88 Prozent der Betroffenen deutlich länger zu gedulden. Auf dem Land sind es 80,5 Prozent, und selbst in den angeblich überversorgten Städten noch 63,5 Prozent. Zum Vergleich: Beim Hausarzt warten nur drei Prozent der Patienten länger als drei Wochen auf einen Termin, beim Facharzt sind es 20 Prozent.

Doch hat die Regierung die Psychotherapie kaum im Blick. Mit dem Versorgungsstrukturgesetz, das zum Jahresbeginn 2012 in Kraft treten soll, will Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) mehr Mediziner aufs Land holen. Das Lockmittel sind finanzielle Anreize. Um der Überversorgung anderswo zu begegnen, sollen Kassenärztliche Vereinigungen (KV) auch Arztpraxen aufkaufen dürfen. Dadurch aber könnte es für psychisch Kranke noch enger werden, fürchten Experten. Weil Psychotherapeuten-Praxen billiger zu haben und ihre Betreiber in der Selbstverwaltung weniger einflussreich sind, könnten die KVen den geforderten Abbau von Arztsitzen womöglich bei ihnen beginnen.

Die Legitimation dazu hätten sie. Nach den amtlichen Zahlen nämlich gibt es in der ambulanten Psychotherapie trotz ellenlanger Wartezeiten keine Unterversorgung. Im Gegenteil. 391 der 395 Planungsbereiche gelten amtlich als „überversorgt“. Das liegt daran, dass sich die Bedarfszahlen für Psychotherapie nach wie vor am Jahr 1999 orientieren. Damals brauchte man auf die Schnelle eine Richtgröße und machte den Ist-Zustand kurzerhand zum Soll – was auch den besonderen Engpass im Osten erklärt. Ruhrgebietsstädte wurden wie kleine Kreisstädte eingestuft. Und es wurde unterstellt, dass Menschen auf dem Land einen neunmal geringeren Behandlungsbedarf haben als Stadtbewohner. Seither sind in Großstädten für 100 000 Einwohner 38,8 Therapeuten vorgesehen, auf dem Land nur 4,3. Eine solche Spreizung gibt es in keiner anderen Arztgruppe. Sie ist auch nicht durch Erkrankungszahlen gedeckt.

Die Zahlen müssten dringend neu berechnet werden, fordert die Psychotherapeutenkammer. Und die Planung müsse sich an der Häufigkeit von Erkrankungen orientieren. „Wir gehen davon aus, dass die KVen ihrem Auftrag gerecht werden und den tatsächlichen Bedarf berücksichtigen“, sagte ein Ministeriumssprecher dem Tagesspiegel. Es würde sich auch rechnen. Da es zu wenig Therapeuten gibt, werden psychisch Kranke oft zu lang und zu einseitig mit Medikamenten behandelt. Und immer wieder krankgeschrieben. Schätzungen zufolge kosten allein die Fehltage depressiv erkrankter Arbeitnehmer die deutsche Wirtschaft pro Jahr 1,6 Milliarden Euro. Krankengeldzahlungen von zwei Milliarden Euro für die Kassen kommen noch obendrauf. 1993 lagen die Gesamtkosten für psychische Erkrankungen bei 19,1 Milliarden Euro. 2008 waren es bereits 28,7 Milliarden. Anlass zum Handeln war das den Gesundheitspolitikern bisher nicht.

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