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Harald Martenstein.

© dpa

Martensteins Kolumne: 20 Jahre Großbaustelle

Nach meiner Erinnerung war es vor 20 Jahren so: Die Mauer fiel, die Berliner lagen sich in den Armen. Am nächsten Morgen erschien, wie aus dem Nichts, am Alexanderplatz ein Bautrupp und grub ein riesiges Loch dort. Die Sowjetunion zerfiel, Bulgarien wurde EU-Mitglied, Schröder kam, Schröder ging. Ich bekam graue Haare. Aber das Loch ist geblieben.

Es wandert, wie eine Düne. Mal graben sie hier, mal graben sie dort. Manchmal schütten sie etwas zu. Manchmal graben sie so eine Art Kanäle, wie es sie auf dem Mars gibt. Überall auf dem Platz stehen gestreifte Baken, sie werden fast täglich umgestellt. Manchmal passiert an dem Loch monatelang nichts, außer, dass jeden Morgen für eine halbe Stunde zwei Arbeiter erscheinen und die Baken umstellen. Jedes Mal, wenn ich mich in den letzten Jahrzehnten dem Alexanderplatz als Verkehrsteilnehmer näherte, war die Situation anders und neu.

Ich habe mich gefragt: Was bauen die da? Das muss doch Milliarden kosten. Ich dachte, es wird so etwas Ähnliches wie die Pyramiden von Gizeh, an denen ist auch so lange gebaut worden. Es ist aber eine Tiefgarage. Deutschland wird wiedervereinigt, und sofort gräbt Deutschland auf dem wichtigsten Platz seiner wichtigsten Stadt ein gewaltiges Loch, um dort die teuerste, gewaltigste, aufwendigste und atemberaubendste Tiefgarage der Menschheitsgeschichte mit der längsten Bauzeit seit den Tagen des sagenumwobenen Kaisers Nebukadnezar zu implantieren. Wir sind ein Autoland. Wir sind eine große Nation.

Bald, schon in acht Jahren, wird das Loch genauso lange da sein, wie die Mauer da gewesen ist. Das Loch im Alexanderplatz ist sozusagen unser ewiges Mauermahnmal. Es ist das größte deutsche Kunstwerk. Es ist so tief wie die deutsche Seele, so schwarz wie die dunkelsten Momente unserer Geschichte. Immer, wenn wir Berliner es sehen, müssen wir an den Tag denken, an dem die Mauer fiel, und an dem die Männer kamen, um das Loch zu graben. Man kann es vom Mond aus sehen, ganz bestimmt. Wenn man auf dem Mond steht, muss man nur das größte und finsterste Loch suchen – dort ist unser Berlin, dort schlägt sein nimmermüdes Herz. Das Loch ist ein Verkehrshindernis. Nichts fließt. Jeden Tag, seit zwanzig Jahren, stehen die Berliner am Alexanderplatz im Stau, und werden auf diese großartige Weise an den Gefühlsstau und die verlorene Lebenszeit der Mauerjahre erinnert. Das Loch wird hoffentlich niemals verschwinden. Wenn es auf dem Felsen von Gibraltar keine Affen mehr gibt, wird Gibraltar nicht mehr britisch sein. Wenn es aber am Alexanderplatz kein Loch mehr gibt und keinen Stau, dann, so fürchte ich, wird unser Vaterland wieder geteilt werden. Wir feiern heute: 20 Jahre Großbaustelle Alexanderplatz!

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